Überlebenschance am Amazonas

Überlebenschance am Amazonas

Der Tod von Jugendlichen durch Alkoholmissbrauch, Mord und Suizid gehört für Angelika und Andreas Totz zum traurigen Alltag. Sie berichten, wie ein Ort der Hoffnung mitten im brasilianischen Dschungel entstanden ist.

Mein Name ist Andreas Totz und mit meiner Frau Angelika und unseren beiden Jungs Chris und Anderson – oder besser „Oraso“ und „Dimodo“, wie sie hier von ihren Freunden getauft wurden – wohne ich als Missionar seit einigen Jahren weit draußen im brasilianischen Dschungel bei den indigenen Kulina. Was sich für einige wahrscheinlich sehr entspannt, idyllisch und friedlich anhört, ist in der Realität leider oft ganz anders.

Während unsere Jungs mittlerweile zu jungen Männern herangewachsen sind und ihr ganzes Leben noch vor sich haben, sind viele ihrer indigenen Altersgenossen bereits tot. Unfälle, Krankheiten, besonders der schamanistisch verursachte Todeszauber „Dori“, Alkoholexzesse und Suizid fordern immer wieder ihre Opfer. Die Kulina wachsen ohne Bildung auf, haben keine Chance auf große Karrieren und so ist das Leben der Indianer an den Rhythmus des Dschungels angepasst. Reife Früchte werden geerntet und gegessen. Es wird gefischt, gejagt und geklettert. Die geringe Sozialhilfe, die am Anfang des Monats mit dem Boot in der Stadt abgeholt wird, wird meist für Alkohol verprasst. Leidtragende sind die Kinder. Mit nächtelangen monotonen Gesängen versucht man, den spirituellen Gefahren und Krankheiten zu widerstehen und die bösen Geister zu manipulieren. Über die Jahre entstand der Wunsch, ein Bildungszentrum zu errichten, um indigenen Jugendlichen zu helfen. Mitten im Dschungel – ein Ort der Hoffnung. Nach zwei Jahren Bauzeit und viel schweißtreibender Arbeit ist dieser Ort Wirklichkeit geworden: das Bildungszentrum Marinaha in Envira. Dort können indigene Jugendliche aus jedem Dorf des Landkreises Lesen und Schreiben und die wichtigsten biblischen Geschichten lernen. Erima und Amama aus dem Dorf Aruanã sind zwei davon. Die beiden waren sieben Jahre alt, als wir sie vor einigen Jahren kennenlernten. Hungrig nach Bildung und nach einem beschwerlichen Vier-Stunden- Fußmarsch durch den Dschungel trafen sie drei Tage vor dem offiziellen Unterrichtsbeginn ein. Viele Jugendliche kamen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten, wie Zahnschmerzen oder Hautentzündungen. Doch mit medizinischer Hilfe aus der Stadt konnte ihnen geholfen werden.

Im ersten Semester haben wir Fächer wie Biblischen Unterricht, Mathe, Gesundheit/Sucht und Alphabetisierung eingeführt. Es tun sich für unsere indigenen Jugendlichen nie erträumte Türen auf. Durch das Projekt, welches wir noch als lokalen Verein eintragen lassen wollen, sehen sie über den Tellerrand des Dschungels hinaus, der für sie bisher nur das Jäger- und Sammlertum geboten hat. Nun haben sie reale Perspektiven. Die Jugendlichen entwickeln eine Lebensroutine fern von den negativen Auswirkungen des überm..igen Alkoholkonsums. Wir erleben, dass verschlossene und untereinander verfeindete Jugendliche aufblühen. Sie lernen Gottes Wort in ihrer Muttersprache, singen gern und entwickeln ein Gruppenbewusstsein über ihre traditionellen Grenzen hinweg. Der Jugendliche Erima erzählte uns einmal: „Mir gefällt es in Marinaha, weil nachts das Licht brennt. So belästigen mich keine bösen Geister.“ Wenn sie nach ihrer Zeit in Marinaha wieder motiviert in ihre Dörfer zurückkehren, können sie dort mehr Veränderung anstoßen, als wir es uns bisher vorstellen können.

Wie unsere beiden Jungs haben sie noch ihr ganzes Leben vor sich und bekommen die Chance, in einer sich schnell verändernden Welt bleibende Werte zu entwickeln und sich besser zurechtzufinden.

Angelika und Andreas Totz sind Missionare im Projekt Marinaha in Envira, Brasilien

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Februar-April 2020) erschienen.