Unantastbar?

Unantastbar?

Drei Jahre sind Ulrike und Andreas Rüggeberg auf Sizilien Flüchtlingen begegnet und haben ihnen geholfen, neue Orientierung zu finden. Wem sie begegnet sind und was sie dabei gelernt haben.

Unantastbar – so ist es in unserem Grundgesetz und in den Verfassungen vieler Länder verankert. Und doch wird die Menschenwürde aufs Schwerste verletzt, überall in der Welt, auch in Europa. In der Arbeit mit Geflüchteten auf Sizilien haben wir viele Geschichten gehört, wie Menschen verletzt, geschädigt, gedemütigt und ihrer Rechte beraubt werden:

Blessing*, die aufgrund falscher Versprechungen nach Europa kam und schließlich zur Prostitution gezwungen wurde.

Ahmed*, der als Jurastudent in seinem Bürgerkriegsland zur Zielscheibe destabilisierender Gewalt wurde.

Isaac*, der keine Verdienstmöglichkeiten finden konnte, um seine Familie durchzubringen und die Behandlung seines herzkranken Kindes zu bezahlen.

Fatima*, die nach dem Tod ihres Mannes ihren gewalttätigen Schwager heiraten musste.

Hassan*, dem in einem moslemischen Umfeld nachgesagt wurde, konvertiert zu sein (was gar nicht stimmte), und der mit dem Tode bedroht wurde.

Peter*, Happy*, Boubakar* und all die anderen, die in Libyen ausgeraubt, erpresst, eingesperrt, misshandelt wurden und schließlich Unsummen von Geld zahlen mussten für die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer.

Patrick*, der in den Gemüsetreibh.usern Siziliens für zehn Stunden Arbeit am Tag nur 25 Euro erhält und oft auch hingehalten wird und seinen Lohn gar nicht sieht.

Was passiert in einem Menschen, dessen Würde so schrecklich verletzt wurde? Einige leiden unter einer posttraumatischen Störung, die sich durch aufdrängende Bilder, Erinnerungen, Alpträume ausdrückt, und ziehen sich stark zurück. Viele sind misstrauisch und haben Mühe, anderen zu vertrauen. Andere wiederum tragen Wut, Verbitterung und Rachegedanken mit sich herum. Alle leiden unter Gefühlen von Verlust, Trauer und Einsamkeit. Den meisten fehlt eine realistische Zukunftsperspektive, sie fühlen sich betrogen, enttäuscht und werden leicht zum Opfer von Drogenhändlern und Zuhältern.

In den vergangenen drei Jahren haben wir durch unsere Angebote im „Open House Ragusa“ geflüchtete Menschen bei ihren ersten Schritten in einem fremden Land begleitet, beraten und durch Kursangebote erste Grundlagen gelegt für die folgenden Schritte. Durch Verteilung von Hilfsgütern wie Essen, Kleidung, Decken und Gasflaschen wurde manche akute Not gelindert.

Doch vor allem wollten wir heilende Gemeinschaft sein und Menschen in dieser Gemeinschaft willkommen heißen. Deshalb war es nicht nur wichtig, was wir anbieten, sondern wie wir das tun und welche Werte uns dabei leiten. Erfahrungen von Machtlosigkeit und Armut berauben Menschen ihrer Würde. Neues Wertgefühl kann wachsen, wenn Menschen Wertschätzung erleben. Wenn wir ihnen auf Augenhöhe begegnen, sie sich als Individuen wahrgenommen fühlen und die Chance haben, etwas zu erreichen und auch für andere etwas beizutragen.

Empathisches Zuhören verändert oft nicht die Umstände; aber das Wissen, verstanden zu sein und nicht allein zu sein, ermutigt, tröstet und stärkt zum Weitergehen.

Befähigung bedeutet, traumatisierten Menschen, die sich häufig als ohnmächtig erleben, schrittweise Verantwortung, Wahlmöglichkeiten und Kompetenz zu übergeben. So halfen wir z.B. dabei, am Computer einen Lebenslauf und Bewerbungen zu schreiben, die die Chancen auf einen Arbeitsplatz verbessern.

So geht Jesus mit Menschen um – das ist gute Nachricht. So können wir Evangelium für verletzte Menschen sein, oft auch ohne gemeinsame sprachliche Verständigung. Auf diese Weise können Menschen sich als gewürdigt erleben und neue Hoffnung und Mut gewinnen.

Seit Kurzem sind wir wieder in Deutschland. Das Projekt „Open House“ auf Sizilien wurde vom einheimischen Träger zunächst beendet, die Arbeit mit Migranten soll später in neuer Form weitergeführt werden. Dankbar blicken wir auf diese Zeit zurück. Wir fühlen uns durch so viele wertvolle Menschen, die wir kennenlernen durften, bereichert und gesegnet. Wir geben sie ab in die guten Hände Gottes und wollen uns nun in unserer Arbeit als Psychiater und Therapeuten einlassen auf Menschen in unserer Heimat, die ebenfalls in ihrer Würde verletzt wurden.

Ulrike und Andreas Rüggeberg waren Missionare auf Sizilien, Italien

* Namen geändert

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai-Juli 2020) erschienen.