Gefangen zwischen Bürgerkrieg und Corona

Gefangen zwischen Bürgerkrieg und Corona

Maike Hadenfeldt erlebte als Missionarin im Kongo den Ausbruch von Pandemie und Bürgerkrieg hautnah. Nun ist sie zurück in Deutschland und sucht Gott in dem Erlebten.

Den ersten Schusswechsel erlebte ich eines Abends, als ich es mir gerade mit meiner kleinen Katze Mogli auf dem Schoß gemütlich gemacht hatte. Die Schüsse dringen an mein Ohr und langsam durch mein Bewusstsein. Ich lösche das Licht und gehe in Deckung. Keine leichte Aufgabe, da jeder Raum voller Fenster ist und selbst die dünnen Holztüren keinen Schutz versprechen. Schließlich kauere ich mich im Wohnzimmer im Dunkeln unter dem Fenster auf den Boden und spüre die kühle Steinwand im Rücken. Ob die Schüsse weit weg sind? Ob es schon Tote gibt? Ob die Rebellen hierher finden? Seit meine Missionarskollegen für die Geburt ihres Kindes das Land verlassen mussten, wohne ich hier allein – jeder im Dorf weiß das.

Diese Nacht der ersten Schießerei war nur der Beginn von den folgenden Monaten voller Unruhen und den Auswirkungen des Bösen, wie sie nur der Krieg hervorbringen kann. Zwei Tage später höre ich im Krankenhaus die Schreie der Verwundeten und versorge die Schussverletzungen, die die Spuren von Zerstörung, Gewalt und Hass in den menschlichen Körper gebohrt haben. Die Auswirkungen der nackten Realität zu erleben und in die Augen der Opfer zu sehen, die ebenso Täter sind, und ihren Geschichten zu lauschen, hinterlässt tiefe Spuren in meiner Seele.

Ein junger Soldat schoss sich das Gesicht weg in seiner Verzweiflung und seinem Wunsch, dem Leben ein Ende zu machen. Ein kleiner Junge mit schwersten Verbrennungen ruft in meinem Kopf noch immer meinen Namen. Ich kann ihm sein Schicksal nicht abnehmen. Seine Eltern, die ihn in seinen jungen Jahren zum Benzinholen geschickt haben, konnten nicht verhindern, dass er beim Betreten der Hütte Feuer fängt, weil das Benzin auf seinem ganzen Körper verteilt war. Ein totes Neugeborenes können wir nach mehreren Tagen im Geburtsprozess nur noch im verwesten Zustand auf die Welt bringen, weil für die Mutter die dringend benötigte Hilfe viel zu spät kam. „Du hast dein Kind getötet!“, ruft die Hebamme der verzweifelten Mutter zu.

Die Corona-Pandemie verschlimmert die Lage zusätzlich: Junge Menschen schließen sich vermehrt den Rebellengruppen an, weil die Schulen geschlossen haben. Ihnen fehlen Perspektive und Lebensinhalt. Durch die geschlossenen Grenzen nach Uganda und die vielen Beschränkungen und Verbote nehmen Unruhen und die politische Instabilität weiter zu. Wir als Missionarinnen und Missionare können das Land nicht mehr über die vertrauten Routen verlassen. Den unterschiedlichen Stämmen wird der Zugang zu ihren Feldern verwehrt, Rinder werden gestohlen und es kommt immer öfter zu Konflikten zwischen Rebellen und Soldaten. Viele Menschen werden ermordet, verschwinden spurlos oder bekommen Todesdrohungen. Die meisten Mitarbeiter des Krankenhauses fliehen.

Verstehen kann ich nicht, was ich erlebt habe. Aber Gott erwartet auch nicht von uns, dass wir alles verstehen, sondern dass wir ihm bedingungslos vertrauen.

Eines Morgens sitzen zwei kleine unterernährte Jungs vor meinem Haus auf einem kleinen Mauervorsprung. Der Größere von ihnen hält eine kleine französische Bibel in seinen schlammverschmierten Händen. „Er kann unmöglich schon lesen“, denke ich, als ich mit Keksen und Wasser ausgerüstet zu ihnen gehe. Flüchtlingskinder sind sie, wie viele andere hier in diesem kleinen Ort. Der Dorfchef spricht nach einer Zählung von über 1000 Familien, die meisten ohne Väter. Die Mütter haben oft acht bis zwölf Kinder. Nicht wenige der Frauen sind schwanger oder haben mehrere Kleinkinder, kein Dach über dem Kopf, nichts zu Essen. Sind erschöpft, krank, traumatisiert und völlig am Ende. Ich muss täglich an ihnen vorbei auf dem Weg zur Bibelschule oder zum Krankenhaus. Nun sitzen diese beiden Jungs vor meiner Haustür. Ich frage den Größeren der beiden, ob er denn schon lesen kann und ob er mir etwas vorlesen will. Mit gesenktem Blick schlägt er die Bibel auf und sagt die Worte auf Französisch: „Und sie durften bei ihr wohnen…“ Wie gerne würde ich ihnen ein Zuhause geben. Schutz. Geborgenheit. Sicherheit.

Zurück in Deutschland verfolgen mich die Bilder, die Menschen, die Begegnungen. Noch Monate später erhalte ich Nachrichten aus dem Kongo über weitere Unruhen, Schusswechsel, Fluchtbewegungen. Es scheint kein Ende zu nehmen. Ich kann meine kongolesischen Freunde, Kollegen und Geschwister im Herrn nur immer wieder im Gebet vor Gottes Thron bringen. Verstehen kann ich nicht, was ich erlebt habe. Aber Gott erwartet auch nicht von uns, dass wir alles verstehen, sondern dass wir ihm bedingungslos vertrauen.

Wie es nun weitergehen wird, weiß ich noch nicht. Den Kongo vergessen werde ich nicht. Ich denke zurück an die Evakuierung und den plötzlichen Verlust meines neuen Zuhauses, das mir trotz der feindlichen Umgebung vertraut geworden war. Ich bin dankbar, dass ich nun wieder in Deutschland sein kann, um Boden unter die Füße zu bekommen und neue innere Sicherheit zu gewinnen. Was bleibt, ist ein Warten auf Gottes Wirken in Zeiten von Corona und mitten im Bürgerkrieg – er ist der Ewige, der alles in seinen Händen hält.

Maike Hadenfeldt war als Missionarin in Nyankunde, Kongo

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (August – Oktober 2021) erschienen.