Eine neue Gemeinde alle 10 Tage

Eine neue Gemeinde alle 10 Tage

In keinem europäischen Land entstehen aktuell so viele neue Gemeinden wie in Frankreich. Daniel Liechti berichtet im Interview, wie ein Moment der Einheit diese Dynamik möglich machte.

Daniel Liechti, mit der Gemeindegründungs-Initiative „1 pour 10.000“ (deutsch: eine für 10.000) wird zurzeit durchschnittlich jede Woche eine Gemeinde in Frankreich gegründet. Sie sind Präsident der Gemeindegründungskommission der CNEF, die diese Initiative auf den Weg gebracht hat. Wofür steht „1 pour 10.000“?

Ich war lange Vizepräsident dieses Dachverbandes, der 33 Gemeindebünde in Frankreich zusammenschließt – über 70 Prozent aller Evangelikalen. Das Anliegen der Gemeindegründung ist einer der Kernwerte dieses Dachverbandes. Wir haben 2001 entschieden, wenn möglich, die meisten Gemeindebünde zusammenzuführen, um einen einheitlichen Dachverband zu schaffen, um die Anliegen der Evangelikalen zu vertreten. Da hat Gott einen starken Moment der Versöhnung geschaffen, wo wir abgemacht haben, dass es nicht darum geht, dass wir alle theologischen und ekklesiologischen Verschiedenheiten abschaffen. Wir wollen den zentralen Punkt der Einheit hervorheben. Es gab Versöhnung und dann eine Reorganisation. Wir wollen vor allem an unser Land denken und sagen: Was können wir gemeinsam machen, dass das Evangelium bleibend zu allen Orten hinkommt? Deshalb habe ich da diesen Vorschlag gemacht: Könnte man nicht „eine Gemeinde für 10.000 Einwohner“ als Ziel setzen?

Damals gab es durchschnittlich eine evangelikale Gemeinde für 31.000 Einwohner. Und jetzt, nach über zehn Jahren, also 2010, sind wir bei einer Gemeinde für 29.000 Einwohner. Das ging nicht sehr schnell vorwärts, weil die Bevölkerung ja auch ständig zunimmt. Wir sind ein bisschen schneller als die demografische Zunahme. Wir arbeiten stark daran, dass es je länger, je mehr Multiplikation gibt und dann könnte es viel schneller gehen.

Warum die Zahl 10.000?

Es entspricht auch den geografischen Distanzen: Bei einer Gemeinde je 10.000 Einwohner könnte jedermann in einem vernünftigen Zeitrahmen eine Gemeinde finden.

Sie sind gebürtiger Schweizer. Was bewegt einen Schweizer dazu, von Paris aus Gemeinden zu gründen?

Ich habe mich hier nach meinem Glaubensengagement theologisch ausbilden lassen, war damals noch jung und bin in die Jugendarbeit eingestiegen. Dann habe ich schnell festgestellt, dass es in unserem Nachbarland Frankreich viel weniger Evangelikale gibt als in der Schweiz. Schließlich wurde ich angefragt: Könntest du nicht in Frankreich mithelfen? Da mein Familienhintergrund zweisprachig ist, schien es mir einfach, dieser missionarischen Anfrage nachzugehen. Ich habe dann mein ganzes Leben hier in Frankreich verbracht, bin schon lange eingebürgert, also ein Franzose.

Die europäischen Staaten sind sehr unterschiedlich. Was sind die spezifischen Herausforderungen in Frankreich dabei, neue Gemeinden zu starten?

Ich denke, dass wir uns schon früher daran gewöhnen mussten, dass das Christentum eher Vergangenheit ist, auch die kulturelle Prägung. In den großen Kirchen bei uns, vor allem der katholischen Kirche aus dem Elsass und kleinen Teilen von Südfrankreich, wurden vor 40 Jahren noch über 80 Prozent der Kinder getauft und heute sind wir bei weit unter 50 Prozent. In einer einzigen Generation hat sich die Säkularisierung hervorgehoben. Heute ist es doppelt wichtig und wirksam, Gemeinden zu gründen, weil es nicht nur bleibender ist, sondern weil es auch eigentlich die Wahrheit des Evangeliums auf inkarniertem Weg darstellt. Wenn man die Geschichten der einzelnen Christen ansieht, sehen wir fast nur noch Entscheidungen bei Leuten, die über Monate oder Jahre mit einer christlichen Gemeinschaft in Kontakt gekommen sind und dann persönlich Jesus kennenlernen. Es gibt fast keine Frucht mehr über einen anderen Weg der Evangelisation. Alles, was punktuell, sporadisch ist, einfach Evangelisationseinsätze – das braucht einen starken Grund des Christentums, und wenn der nicht mehr da ist, ist es unbedingt wichtig, das Evangelium auf gemeinschaftlichem Weg inkarniert in die Städte und die Quartiere zu bringen.

Seit 1950 ist die Zahl der freikirchlichen Christen in Frankreich von damals 50.000 auf heute 740.000 gestiegen. Auch eine Frucht von „1 pour 10.000“?

Den Slogan kannte man damals noch nicht. Aber tatsächlich ist ein Teil Frucht der Gemeindegründungsarbeit. Da haben wir sehr viel ausländischen Missionaren zu verdanken: Engländer, Schweizer, Niederländer, Deutsche und Amerikaner. Denen haben wir viel dieser schwierigen Arbeit zu verdanken, wenn sie treu oftmals zehn, 15 Jahre am Ort das Evangelium verkündet haben, eine Gruppe zusammensammeln konnten von Jüngern, und wenn man jetzt vorbeigeht, ist da eine Gemeinde.

Damals machte es noch Sinn, große Evangelisationen zu machen. Heute könnte man das nicht mehr so machen, weil eben unsere Gesellschaft viel zu weit weg ist vom Christentum. Ein Teil der Zunahme geschah auch durch Migration – vor allem in den letzten 25 Jahren durch afrikanische Gläubige. Die meisten afrikanischen – wie auch koreanischen – Gemeinden allerdings erreichen eigentlich fast nur ihre Landsleute. Das meiste ist Frucht einer treuen Kleinarbeit, der Gemeindegründung; und das Wort Gottes kommt nicht zurück, ohne zu wirken. Und vor allem der Heilige Geist wirkt. Wir wollen uns in dieser missio dei, in dieser Gottesmission einbringen und deshalb haben wir den Fokus auf Gemeindegründung.

Was sind das für Gemeinden, die da entstehen?

Wir haben zum Beispiel im Stadtkern von Paris ein Team, wo der Leiter und ein großer Teil seines Teams – fast 20 Leute – sehr begabt sind für Gospelmusik. Die haben damit ein ganzes Projekt aufgebaut, wo sie mit einem Gospelchor anfangen, wo gläubige und noch nicht gläubige Leute zusammenkommen und jede Woche singen, Singübungen machen und hier und da ein Konzert geben. So werden auch Freundschaften geschlossen. Und dann haben sie ein Programm aufgebaut mit Bibelabenden in den Häusern, mit einem Gottesdienst, der auch sehr gospelmäßig aufgebaut ist, so dass die Leute, die dann in den Gottesdienst kommen, sich da wiederfinden und es so ein bisschen das gleiche Ambiente hat. Und diese Gemeinde von 20 Teammitgliedern hat inzwischen, nach fünf, sechs Jahren, regelmäßig 60, 70 Leute im Gottesdienst. Ein Großteil dieser Zunahme sind Leute, die vorher mit Gott überhaupt nichts am Hut hatten, aber gemerkt haben: Das Evangelium ist nicht nur für Christen und für Leute, die von ihrer Familiengeschichte her interessiert sind, sondern das trifft auch für mein Leben zu. Es gibt natürlich dann große geistige Herausforderungen. Gemeindegründung ist nicht eine Methode, sie ist zuerst wirklich eine geistliche Angelegenheit.

Dann denke ich an eine von außen gesehen viel bescheidenere Gemeindegründung: eine Arbeit in einer Stadt mit 10.000 Einwohnern im Zentrum Frankreichs. Ein kleines Team von vier, fünf Leuten, die ihr Haus geöffnet und sich in lokale Vereine eingebracht haben. Eine Frau gibt Kindern Musikstunden, ihr Mann arbeitet teilzeitlich als Schreiner. Und so haben sie Freundschaften geschlossen und haben viel Zeit verbracht mit Leuten. Einige haben sich bekehrt. Nach einigen Jahren eine kleine Gruppe mit 25 gläubigen Leuten, mit einem offenen Gottesdienst.

Was tun Sie, um Gemeindegründer zu finden und fördern?

Wir haben einen Grundkurs geschaffen, wo wir in den bestehenden Gemeinden den interessierten Leuten anbieten, zu überlegen: Was ist Gemeindegründung? Was für Leute suchen wir? Was sind die Bedingungen? Wie kann man sein Umfeld studieren, um besser darauf einzugehen? Vielerorts in Frankreich haben inzwischen Leute diesen Kurs gemacht und ganz neu entdeckt, was es eigentlich heißt, das Evangelium unter die Leute zu bringen. Dann haben wir ein Assessment geschaffen für junge Leute, die sich fragen: Bin ich eigentlich gemacht für Gemeindegründung oder als Teammitglied?

Außerdem haben wir Ausbildungsgänge: eine Art Lehre, bei der die Leute monatlich zusammenkommen für die Theorie und unter der Woche in einer Gemeindegründung helfen. So bekommen sie in zwei Jahren eine gute Grundausbildung. Ich bin Dozent in der evangelikalen Fakultät in Vaux-sur-Seine. Dort habe ich zwei Ausbildungsgänge geschaffen: einen auf Bachelor-Niveau für zukünftige Leiter von Gemeindegründungen; der andere ist ein Master in Gemeindegründung, der ist für leitende Leute in den Gemeindebünden.

Was geben Sie Menschen mit, die einen Ruf Richtung Gemeindegründung in Frankreich spüren?

Die große Entwicklung ist, dass heute die meisten Gemeinden von Franzosen gegründet werden. Wir sind trotzdem nach wie vor sehr dankbar für Missionare, die zusätzlich zu uns stoßen. Natürlich ist es heute, mit einer so stark säkularisierten Bevölkerung, besonders sinnvoll, Europäer zu haben. Zu verstehen, was da kulturell abläuft, ist für Nachbarn – Deutsche, Schweizer, Niederländer – viel leichter. Es braucht Zeit, um die Sprache sehr gut zu lernen. Frankreich ist eine Nation, wo alles über Sprache und Kultur läuft. Ein Missionar gewinnt sehr viel Zeit, wenn er ein verlängertes Praktikum macht in einer dynamischen Gemeinde. Da gibt es in allen Regionen Möglichkeiten. Herzlich willkommen!

Welchen einen Satz geben Sie den Lesern mit?

Für mich ist die größte Ermutigung, dass die Mission nicht mit uns anfängt, sondern die Mission zuerst Gottes Mission ist.

Das Interview führte Simon Diercks, Leiter Communication & Media

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Februar – April 2022) erschienen.

Mehr zur Initiatve „1 pour 10.000“ (französisch)