Endlich verstehen

Endlich verstehen

Die Freie evangelische Gemeinde Ewersbach hat ihre Räume geöffnet, damit ukrainische Flüchtlinge einen Gottesdienst auf Russisch und Ukrainisch feiern können. In allen Herausforderungen zeigt sich hier für viele ein Lichtblick.

Viele der Christen unter den Flüchtlingen aus der Ukraine sind in Deutschland in ein Loch gefallen. In der Heimat waren sie aktiv am Gemeindeleben und Dienst beteiligt und plötzlich sitzen sie in einem fremden Land mit fremder Sprache und Kultur und können nichts tun. Hinzu kommen die erlebten traumatischen Raketen- und Bombeneinschläge, wochenlanges Ausharren in Kellern und die Risiko- und angstreiche Flucht. In Deutschland müssen sie nun die große Ungewissheit ertragen, wie es weitergeht. Mal gibt es Hoffnung, bald zurückzukehren, mal Frust, dass der Krieg noch lange dauern wird. Soll man sich auf das Leben in Deutschland einstellen und sich in diese Kultur integrieren? Die Sprache lernen? Nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz suchen? Viele Fragen, auf die sie nicht wirklich Antworten finden. Es braucht Menschen, die zuhören, Austausch, gegenseitige Ermutigung und Trost, Verständnis und Rat, gemeinsames Gebet füreinander, für die Heimat und so vieles mehr.

Gleichzeitig erleben wir, dass einige gemeindefremde Flüchtlinge offen fürs Evangelium werden. Ihr Leben und Sicherheitsgefühl wurden durch den Krieg und die Entwurzelung erschüttert. Aber sie erlebten in der Ukraine, auf der Flucht und in Deutschland Unterstützung durch Gemeinden und einzelne Christen. Sie wurden in den Gemeinden untergebracht, versorgt und gegebenenfalls
auf der Flucht begleitet und weitervermittelt. Das war ein starkes Zeugnis für die tätige Liebe und den Glauben!

Die ukrainischen Christen waren dankbar, dass einige deutsche Gemeinden sich bemüht haben, Übersetzungen anzubieten. Allerdings kann ein Gottesdienst in fremder Sprache und Kultur nicht das leisten, wonach sie sich sehnen und was sie brauchen.

Diese Not und Chancen zugleich führten uns im Hauskreis zu der Idee, sonntäglich Gottesdienste in russischer und ukrainischer Sprache zu beginnen. Das Kernteam bildeten dafür Ukrainer und Russlanddeutsche. Die FeG Ewersbach öffnete ihre Türen und machte den Gottesdienst in ihrem Gemeindezentrum möglich. Zum ersten Gottesdienst kamen aus dem Umkreis von etwa 30 Kilometern 90 bis 100 Erwachsene und 30 bis 40 Kinder. Einige davon waren keine Christen.

Die Freude der Ukrainer war groß! Man versteht endlich jeden, den man trifft! Die bekannten Lieder in der Muttersprache schenken Freude, Trost und Ermutigung. Endlich kann man mitmachen und den Gottesdienst mitgestalten. Ob durch Musik, Predigt, Kindergottesdienst oder im praktischen Dienst in der Küche.

Gerne genießen die Ukrainer die Gemeinschaft mit Kaffee und Kuchen nach dem Gottesdienst. Bis zu eineinhalb Stunden stehen sie zusammen und tauschen sich aus. Es gibt überraschende Treffen von alten Freunden.

Mit großer Dankbarkeit nehmen sie unsere Hilfe mit dem Übersetzen und Ausfüllen von Dokumenten sowie behördlichen Briefen in Anspruch. Hilfreich sind auch Informationen zu Wohnungssuche, Gesetzen und Regeln in Deutschland oder Tipps für den Möbelkauf. Niemand weiß, wie lange der Krieg noch dauert oder wie er ausgehen wird. Die Ungewissheit in vielen Fragen bleibt. Umso wichtiger ist es, in dieser Zeit einander praktisch zu unterstützen, den Glauben zu wecken, zu stärken und die Lebensperspektiven durch Christus zu sehen! Das wünschen wir unseren Gästen aus der Ukraine!

Albert Giesbrecht ist Bereichsleiter für Südosteuropa und Internationale Gemeindearbeit in Deutschland

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (November 2022 – Januar 2023) erschienen.