Katastrophen, Jackfruit und Selbstwirksamkeit

Katastrophen, Jackfruit und Selbstwirksamkeit

Johannes Peter ist Vorstandsvorsitzender des Vereins humedica, der in 90 Ländern Katastrophenhilfe leistet und Hilfsprojekte initiiert und begleitet. Warum er dafür erst nach Serbien musste, wie Verzweiflung und Hoffnung für ihn zusammengehören und was das mit Menschenwürde zu tun hat, berichtet er im Gespräch mit Simon Diercks.

Johannes, Sie sind einer der Vorstände von humedica. Warum gibt es humedica und was tut ihr?

humedica wurde 1979 gestartet, unter anderem von Wolfgang Groß und seinem Bruder Dieter, die auf Reisen selbst Not erlebt haben. Daraufhin haben sie mittels einer Spendentombola angefangen, Hilfsgüter zu versenden. Das ist gewachsen: Heute arbeitet humedica mit 60 Mitarbeitenden in Kaufbeuren, dem Kindergarten und der eigenen Hilfsgüterlogistik. Der langjährige Geschäftsführer Wolfgang Groß erkannte, dass angesichts des globalen Leids jeder Einzelne herausgefordert ist. Und dass sowohl die Makro- als auch die Mikrolösung nicht im Menschen liegt, sondern in seiner Natur und Identität als von Gott geschaffenes Wesen. So hat er Jesus kennengelernt. Seitdem prägt das humedica: Wir sind humanitär unterwegs mit Menschen aus verschiedenen Hintergründen – nicht nur Christen. Aber wir sehen unsere Arbeit motiviert aus dem Menschenbild, dass der Mensch von Gott geschaffen ist und eine unumstößliche Würde hat. So machen wir vor allem Katastrophenhilfe – akut wie langfristig. Zum Beispiel in Flüchtlingslagern, wo Menschen in einer Katastrophensituation teils seit Jahrzehnten ihr Leben verbringen. Außerdem führen wir selber und mit Partnern Projekte der Entwicklungszusammenarbeit durch – also Projekte, die mehr Struktur fördern. Aktuell beschäftigen uns besonders die Ukraine und Pakistan.

Ein Moment tiefer Hoffnung und tiefer Verzweiflung?

Verzweiflung kann oft zu Hoffnung werden: Letztens sprachen Wolfgang Groß und ich darüber, dass sich in den letzten 40 Jahren viele Dinge gut entwickelt haben. Statistiken zeigen, dass der weltweite Hunger zurückgedrängtwerden konnte. In den letzten drei Jahren haben Corona und der Krieg in der Ukraine diesen positiven Trend massiv gebremst. Daraus entstehen Situationen der Verzweiflung. Wie im Libanon, wo es eine hohe Suizidrate gibt. Solche Situationen können aber zu Momenten der Hoffnung werden – wie in Sri Lanka, einem Land, das eine Wirtschafts- und Staatskrise erlebt und nun mit einer Ressourcen-, Hunger- und Nahrungsmittelkrise zu kämpfen hat. Dort geht es nicht nur um ärztliche Versorgung, sondern um Hunger und Nahrungsmittelversorgung. Ich habe in einem Projekt im Hochland von Sri Lanka Menschen kennengelernt, die nach einer Schulung in einem humedica-Projekt mit einer Schneiderei eine eigene Existenz aufbauen konnten, um dieser Krise zu trotzen. Viele Menschen ernähren sich dort vom knapp gewordenen Reis. Es gibt aber im Hochland Früchte, wie z. B. die Jackfruit, aus der man ein fleischähnliches Curry zubereiten kann. Das wird für die deutsche alternative Ernährung auch eine Rolle spielen. So entsteht aus Notsituationen neue Hoffnung, weil man sich auf lokale Lösungen zurückbesinnt. 

Für nachhaltige Hilfe müssen verschiedene Mitspieler orchestriert werden: Soforthilfe, Spender, Partner vor Ort, Partner für nachhaltigen Wiederaufbau. Hier gibt es immer wieder Kooperationen zwischen Allianz-Mission, Auslands- und Katastrophenhilfe des Bundes FeG und humedica. Welche Rolle übernimmt humedica dabei?

Die Flutkatastrophe in Pakistan ist ein gutes Beispiel. Davon hören wir zwar nicht viel in den Medien, aber es ist eine Riesenkatastrophe. In Pakistan arbeiten wir mit einem lokalen Partner, der Pak Mission Society (PMS),  zusammen, die vor allem in entlegenen Regionen des Landes Projekte zur Hygieneverbesserung und Katastrophenvorsorge durchführt. So sollen Menschen für Katastrophen vorbereitet sein. Mit PMS und auch der Hilfe der Auslands- und Katastrophenhilfe versorgen wir Menschen in Not, die von der Überflutung betroffen sind und alles verloren haben. Da geht es um Nothilfe und mittelfristige Hilfe, um wieder eigene Kapazitäten aufzubauen. Gleichzeitig waren wir auch schon mit einem medizinischen Team vor Ort.

Wer sind Sie, wenn Sie nicht gerade humedica leiten?

Ich bin Familienmensch, verheiratet und habe zwei kleine Töchter. Und ich bin in meiner evangelisch-freikirchlichen Gemeinde aktiv. Das ist meine Motivation: Jesu Auftrag wahrzunehmen, Menschen in Not zu helfen und zu begegnen. Sonst liebe ich Outdoor, bin an Theologie und Medizin interessiert und an Gesprächen und Austausch. Ich liebe Sport – besonders das Schwimmen. Ich sitze viel in Meetings und da ist das ein guter Ausgleich. 

Wie qualifiziert man sich beruflich, um eine Hilfsorganisation zu leiten?

Ich habe Interkulturelles Management und Kommunikation studiert. Wichtig waren auch die Berührungspunkte mit internationalen Projekten durch die Gemeindearbeit. Ich habe selbst ein Jahr in Serbien gelebt und dort Jugendhilfe-und Präventionsprojekte gestartet.

Was haben Sie in Serbien gelernt? 

Wenn wir nachhaltige Wirkung erzielen wollen, ist es wichtig, sich auf den Kontext einzulassen und langfristige Partnerschaften auf Augenhöhe aufzubauen. Wir kommen oft mit einer ethnozentrischen Sicht – theologisch oder in Bezug auf die Entwicklungszusammenarbeit. Aber die Lösungen liegen in einer guten Beziehung mit Partnern. Eine, die sich auch durch kontinuierliche Förderung niederschlägt, die nicht nur Nothilfe oder einzelprojektgebunden ist. In dem ganzen braucht es Vertrauen, aber auch Kontrolle und Qualitätssicherung. Studien belegen den Benefit vom Aufbau von Strukturen gegenüber schneller Nothilfe. So kann viel Leid verhindert werden.

Wie könnt ihr die Wirkung eurer Arbeit nachhaltig messen?

Wir beschäftigen uns mit Indikatoren. Gerade im Gesundheitsbereich sind das wichtige Zahlen. Dass in einer Region eine bestimmte medizinische Behandlung möglich ist, ist an sich gut. Uns geht es aber nicht darum, möglichst viele Behandlungen zu zählen, sondern mit Partnern und Menschen in einer Region zusammenzuarbeiten, sodass sich insgesamt die Gesundheit verbessert. Dazu gehört dann nicht nur der Zugang zu Gesundheitsdienstleistung, sondern in erster Linie die Gesunderhaltung und Prävention. Um unsere Wirkung zu messen, sind also zwei Aspekte besonders wichtig: Zählen und Reden. Statistik und das Gespräch mit allen im Projekt Eingebundenen. Das passiert durch interne und externe Evaluierungen und Berichte, durch Monitoring während der Projektlaufzeit. Die Ergebnisse werden dann im laufenden Projekt oder für Planungen weiterer Aktivitäten eingebunden.

Schlussendlich ist das beste, worauf wir hinarbeiten, dass Strukturen entstehen – auch staatliche Strukturen. Unsere Aufgabe als Nichtregierungsorganisationen ist nicht, den Staat zu ersetzen, sondern auch darauf hinzuwirken, dass die Menschen diese Aufgaben in ihrer Identität als Staatsbürger oder als regionale Verantwortliche übernehmen und wahrnehmen. Sonst stehen wir als die Helfer oder Helden im Mittelpunkt. Das ist nicht das Ziel. Ich glaube, dass in vielen Antworten von Jesus zu sehen ist, dass er die Würde des Menschen und seine Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung auch heraushebt. 

humedica hat einen Pool von 580 medizinischen Einsatzkräften und mehr als 700 ehrenamtlichen Mitarbeitenden: Warum tun sie, was sie tun?

Wir sind ein Angebot an viele Menschen, sich einzubringen, etwas Sinnvolles zu machen und einen Anlaufpunkt zu haben. Da ergeben sich Beziehungen und Freundschaften zwischen den Ehrenamtlichen. Viele erleben – wieauch ich selbst – Selbstwirksamkeit. 

Job oder Berufung, wie gehört das für Sie zusammen?

Die Dinge, die Gott in mich hineingelegt hat, wie die Liebe zu Sprachen und die Freude, in Organisationen Verantwortung zu übernehmen, kamen zusammen mit meinem Interesse für akademische Themen im Zusammenhang mitinternationalen Beziehungen. Ich glaube, Jesus-Nachfolger zu sein und unseren professionellen Job zu machen, das ist alles integriert. Wir müssen relevant sein, nicht dadurch, dass wir jeden Trend mitmachen, sondern dass wir zu den Fragen in der aktuellen Gesellschaft auch herausfordernde Antworten geben. Nicht in der Theorie, sondern im Leben. Auch in der Beziehung mit Menschen, die in anderen Kontexten leben, wie Hindus, Moslems oder Atheisten.

Wenn Sie eine Rede vor der UN-Vollversammlung halten dürften, worüber würden Sie sprechen?

Ich würde von der Bedeutung der Würde des Menschen und deren transzendenter Verankerung sprechen. Wir haben eine Verantwortung als Menschen, erleben aber auch Ohnmächtigkeit. Deswegen ist es gerade im Westenwichtig, wieder zu erkennen, wie bedeutsam Gottesfurcht ist. Auch die Wichtigkeit von glaubensbasierten Akteuren würde ich ansprechen und dass es keine Grundlage hat, die Würde des Menschen in einem aufgeklärten Humanismus zu verankern. Sie liegt nicht in einer gesellschaftlichen Aushandlung, sondern in einer ewigen Realität, die für uns in Jesus ihren Niederschlag gefunden hat.

Welchen einen Satz geben Sie unseren Lesern mit? 

Jesus hat seine Nachfolger gerufen, anderen Menschen zu dienen, weil jeder Mensch wertvoll ist.

Das Interview führte Simon Diercks, Leiter Communication & Media

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Februar – April 2023) erschienen.
Das ausführliche Gespräch in unserem Podcast „Weltbeweger“

Hinweis: humedica arbeitet als christliche Organisation weltanschaulich neutral. Das Interview spiegelt die persönlichen Ansichten von Johannes Peter wider.
Mehr Infos zu humedica