Maike Ettling spürt bei der Gesundheitsarbeit in Tansania die Spannung dazwischen, dass Gott Wunder tun kann, sie aber nicht immer wirkt. Auch Familienmitglieder von Patienten erleben sie. Eine von ihnen ist Rose, die seit zwei Jahren nicht mehr zum Gottesdienst kommen kann.
Erst schob man die Rückenschmerzen und die Lähmung in den Beinen ihres Ehemanns Charles auf seine Arbeit. Als Sammeltaxi-Fahrer war er ständig auf holprigen Straßen unterwegs. Ein anderer Arzt dachte an Knochentuberkulose. Sie versuchten es mit verschiedenen Medikamenten, aber statt Besserung verschlechterte sich sein Zustand. Dann die Diagnose: Prostatakrebs und Knochenmetastasen. Charles litt an zunehmenden Schmerzen, von der Brust abwärts fühlte er nichts und hatte keine Kontrolle über Urin und Stuhl. Er war rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen – auf Rose eben.
Bei Besuchen redet Charles von Gott: Gott, dem nichts unmöglich sei – Gott, der ihn heilen würde. Aber auch Gott, dem er dankbar ist für Sein Nahe-Sein.
Vor einigen Monaten hat er sich taufen lassen – im Liegen mit Wasser über den Kopf. Taufe wäre in seinen gesunden Tagen nie denkbar gewesen. Erst die Krankheit führte zur Begegnung mit Gott. Das macht nicht alles gut, aber sein Gottvertrauen zu erleben, ist trotzdem sehr berührend. Rose, die sich früher oft über ihren Mann und seinen Lebensstil beklagt hat, hat sich entschieden, das Gewesene zu vergeben. Seit zwei Jahren pflegt sie ihren Mann – 24 Stunden, Tag und Nacht. Auch sie hat sichentschieden, Gott zu vertrauen: „Gott selbst zum Trotz“.
Gemeinde als „Wunder-Fabrik“
Eine Bekannte erzählte mir neulich von ihrer „neuen“ Kirche, in die sie jetzt geht. Was sie daran begeistert, fragte ich sie. Wunder! Wer krank ist, wird gesund, wer keine Kinder bekommen konnte, wird schwanger.
„Alle Kranken werden geheilt“ – das steht immer auf Einladungen zu Evangelisationen in Tansania. Gemeinde als „Wunder-Fabrik“. Eine verlockende Vorstellung. Wenn Wunder dann nicht passieren, ist die Antwort einfach: zu wenig Glauben, Sünde im Leben, zu wenig Geld gegeben. Neben krank auch noch „selber schuld“.
Ich bin dankbar, dass der biblische Gott kein Wunder-Automat ist. Gott kann Wunder tun. Aber oft genug passieren sie eben nicht.EMMANUEL. Gott mit uns. Trotz allem. Er ist der gute Hirte mitten im dunklen Tal. Vielleicht ist es das, was Charles erlebt: hoffen auf Wunder, aber in dem „Noch-nicht“ um Gottes „Mittendrin-Sein“ wissen.
Gesundheitsarbeit in Tansania: vier Gesundheitsstationen. Dorfkliniken. Natürliche Medizin. Die meisten der über 40.000 Patienten im Jahr erleben das Gesundwerden und im tansanischen Kontext danken die meisten Gott dafür. Aber „EMMANUEL“, Gott mit uns, mitten in Dunkelheit und Nichtverstehen, gilt auch für die, die das nicht erleben. Zum Beispiel für Zawadi, Mitte 50, seit über zehn Jahren gelähmt und Spastiken und Schmerzen am ganzen Körper. Oder Patrick, ein junger Mann. Nach einem Unfall vor acht Jahren ist er von Kopf bis Fuß gelähmt. Trotz allen Bemühens zeigt sich nur wenig Besserung. Auch bei Charles, der seit zwei Jahren gelähmt ist und sich die Vorahnung auf bei dem sich weiterverbreitenden Krebs abzeichnet.
Alle haben gemeinsam: jahrelanges Hoffen, Beten, Therapieren – keine Heilung. Wunder verweigert. Allen gilt: Gott mittendrin, Gott mit ihnen. Und Gottes Zusage: eines Tages kein Schmerz, kein Leid, keine Tränen mehr. Das ist keine billige Vertröstung auf irgendwann, aber ein Wissen, das dem „Diesseits die Alleinherrschaft“* und dem Leid das „letzte Wort“ abspricht.
EMMANUEL – Gott mittendrin
Ich bin dankbar für die Gesundheitsstationen, wo Menschen Hilfe und Heilung erleben. Dankbar auch für Heilungen, wo Gott „einfach so handelt“. Aber wenn trotz Beten, Hoffen und Sehnen Heilung ausbleibt, bin ich dankbar für die Dimension „EMMANUEL – Gott mittendrin“ – für die Hoffnung: „Irgendwann wird Gott alle Tränen abwischen.“
Ohne diese Dimension, diese Hoffnung könnte ich mir das Leben und die Arbeit hier nicht vorstellen. Sie beantwortet die Spannung bezüglich Gott nicht, aber sie lässt das Nichtverstehen ein wenig aushaltbarer werden.
Maike Ettling ist Missionarin in Tansania
Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Februar – April 2023) erschienen.
*Christine Brudereck, Schriftstellerin