Wenn Europa nicht mehr das Herz der christlichen Mission und diese Welt nicht mehr dieselbe ist und wenn junge Leute nicht mehr Missionare genannt werden wollen – was dann? Thomas Schech gibt einen Überblick, wie und wo heute Menschen zum Glauben an Jesus kommen, wie neue Wege gebahnt werden und welche Rolle wir Christen in Europa und die Allianz-Mission darin finden.
Ich kann heute schon Geschichten schreiben, die fühlen sich an wie aus einer anderen Zeit. Oder nein, sie sind aus einer anderen Zeit! Immerhin bin ich 50 Jahre alt. Als ich eine Freundschaft mit meiner Frau Iris begann, war Briefeschreiben angesagt. Sie lebte in Zürich, ich in Mittelhessen. Die Telefonzelle um die Ecke war einmal in der Woche der Ort für ein Gespräch – 20 Minuten, mehr war finanziell nicht drin. Der erste Datenträger meines PCs war eine Datasette, also eine Kassette als Datenträger. Was eine Kassette ist? Ach, lassen wir das!
Die Welt ist im Wandel. Was für ein Satz! Eigentlich selbstverständlich. Wahrscheinlich denkt jede Generation, dass der Wandel gerade in ihrer Zeit besonders schnell und krass daherkommt. Die Geschichte wird im Rückblick zeigen, wie sich die Dinge einordnen. Wandel und Veränderung sind unsere ständigen Begleiter. Manchen macht das Angst. Natürlich, es wird nicht automatisch besser, aber vieles schon. Wie so oft gilt: Die Dinge sind differenzierter.
Auch Mission ist im Wandel. Es ist wichtig, dass wir uns damit beschäftigen. Wir als Allianz-Mission. Aber auch Sie als Christ. Sie als an der Welt interessierter Zeitgenosse. Und genauso auch die an der Mission beteiligten Ortsgemeinden. Im Überblick möchte ich hier die aus unserer Sicht wichtigsten Paradigmen des gegenwärtigen Wandels benennen und Folgen und Konsequenzen bedenken.
Entwestlichung der Mission
Im globalen Leib Christi ist Europa heute nicht mehr das Herz, das die Impulse gibt, der Kopf, der neue Wege denkt, die Beine, die sie zuerst gehen. Zwei Drittel der weltweiten Christen leben heute im globalen Süden. In einigen Jahren werden es drei Viertel sein. Die globale Kirche ist nicht weiß, sie ist bunt! Für die Rolle des Westens bedeutet das, immer mehr in die zweite Reihe zu treten. Wir werden gebraucht: als Trainerinnen, als Ermöglicher und Ermutigerinnen für lokale Kirchen und Bewegungen.
Multidirektional – alle senden, alle empfangen
Wir können mithelfen, dass Missionsbewegungen aus dem globalen Süden uns in Europa unterstützen. Länder wie Brasilien, die Philippinen, Nigeria oder China senden heute weit mehr Missionare in die Welt als Deutschland. Natürlich hinkt der Vergleich, weil die Bevölkerungszahlen anders sind als bei uns in Deutschland. Aber wir sehen: Aus Ländern, die im 19. und 20. Jahrhundert klassische Empfängerländer westlicher Missionsinitiativen waren, sind heute globale Impulsgeber geworden. Wir brauchen sie. Gerade wenn ich an Europa denke. Aber Mitarbeitende aus wirtschaftlich schwächeren Ländern in das deutlich reichere Europa zu senden, bringt neue Herausforderungen mit sich. Eine Missionarin aus dem globalen Süden wird kaum eine aus ihrem Heimatland voll spendenfinanzierte Mitarbeiterin sein. Die Finanzierung erfordert Kreativität, Flexibilität und oft sind unterschiedliche Quellen nötig. Als Allianz-Mission haben wir einen eigenen Arbeitsbereich „Mission in Return” (deutsch: Mission kehrt zurück) ins Leben gerufen, der das Empfangen von Missionarinnen und Missionaren aus dem globalen Süden begleitet und fördert. Zusätzlich haben wir einen Fonds gegründet, um Mitarbeitende, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen, finanziell zu unterstützen.
Postdenominationalismus sowie Pentekostalisierung als weltweites Phänomen
Die weltweite Kirche wächst. Gemessen an der Weltbevölkerung ist der Anteil der Christen zwar stabil (derzeit bei 32 Prozent), aber in realen Zahlen ist das Wachstum zum Teil rasant. Dabei sind es nicht die klassischen Denominationen oder Konfessionen, die davon profitieren. Häufig sind es ungebundene, freie Haus- und Zellgruppen-Bewegungen, die einen großen Anteil an der Entwicklung in den letzten 20 Jahre hatten. Hinzu kommt eine stark pfingstkirchliche Prägung dieser jungen Gemeinschaften. Ja, wir können sagen, dass die Erfolgsgeschichte der Kirche Jesu in der Mehrheitswelt Hand in Hand geht mit einer Pentekostalisierung (eine immer stärkere Durchdringung des Christentum mit pfingstlerischen Elementen) des Reiches Gottes. Was bedeutet das für eine Missionsgesellschaft wie die Allianz-Mission mit einer Geschichte und einer engen Verbindung, ja einer Verwurzelung in einer Konfession in Deutschland – dem Bund Freier evangelischerGemeinden? Verwurzelung und Mut zu offenen und neuen Wegen müssen ausbalanciert werden.
Urbanisierung von Mission
Laut einer Studie der Vereinten Nationen werden im Jahre 2050 70 % der Weltbevölkerung in urbanen Kontexten leben. Die Zahl der Megacitys (Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern) wird weiter rasant wachsen. Der Schwerpunkt dieser Megacitys wird sich ab 2050 sukzessive von Asien nach Afrika verlagern. Schon heute lebt jeder fünfte Einwohner in diesen Städten in slumähnlichen Verhältnissen. Die Verelendung und die damit verbundenen Probleme und sozialen Spannungen werden zunehmen. Hier liegt ein wichtiger Auftrag für die globale Gemeinschaft der Kinder Gottes – für die Kirche Jesu.
Hybridisierung von Mission
Inlandmission vs. Auslandmission – das sind Kategorien aus einer vergangenen Welt. Die Übergänge sind fließend. Mission im digitalen Raum (online) vs. Mission in der realen Welt (offline) zahlt aus meiner Sicht ebenso auf das Konto der Hybridisierung ein. Genauso wie Migrant vs. Missionar. Ist jemand zuerst eine Migrantin, dann eine Missionarin oder umgekehrt oder beides zugleich? Fakt ist: Afrikanische und südamerikanische Migration und Diaspora-Gemeinden sind heute wesentliche Träger des Christentums in verschiedenen Weltregionen. Oder nehmen wir das Thema Business for Transformation (deutsch: Unternehmertum für Veränderung). Ist jemand als Missionar Unternehmer oder als Unternehmerin Missionarin und eine Kämpferin gegen Armut? Die Begriffe sind fließend. Wie gut! Denn Missionar als Berufsbezeichnung wird aus meiner Perspektive ebenfalls bald der Vergangenheit angehören.
Mission in der digitalen Welt
Fast 60 % der Weltbevölkerung ist regelmäßig in sozialen Medien aktiv. Durchschnittlich verbringen sie 2 ½ Stunden täglich dort. Was heißt das für Mission? Wie bringen wir das Evangelium dorthin, wo die Menschen sind? Evangelistische Kurzvideos auf TikTok; ein ermutigendes Zitat auf Twitter; Bilder auf Instagram, die von der Schönheit Gottes und seiner Barmherzigkeit erzählen; oder auf Facebook eine gute inhaltliche Diskussion anstoßen – geht alles. Und noch etwas: In Deutschland nutzen 30 Millionen Menschen regelmäßig Computerspiele. Wie können wir die Christen unter ihnen ermutigen und befähigen, das Evangelium in diese Community (deutsch: Gemeinschaft) hineinzubringen? Als Allianz-Mission investieren wir deshalb in Mission unter Gamern oder Mitarbeiterinnen, die von Jesus auf Tik-Tok erzählen. Die digitale Welt halte ich übrigens nicht nur aus missionsstrategischer Sicht für relevant. Auch theologisch stellen sich uns neue Fragen, die durchdacht werden müssen. Wie gut, dass es bereits Theologinnen und Theologen gibt, die an diesen Themen dran sind.
Konsequent von der Missio Dei her denken
Nicht wir machen Mission. Mission ist Gottes Sache. Er ist in seiner Welt unterwegs. Er lädt uns ein mitzumachen. Mission ist für mich ein Beziehungsbegriff. „Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch“, sagt Jesus seinen Leuten im Evangelium des Johannes. Mission ist also nicht zuerst ein Auftrag, den wir zu erfüllen haben. Sie ist selbstverständlicher Ausdruck unserer Gottesbeziehung. Weil wir Gott lieben, lässt es uns nicht kalt, wenn Menschen Gott oder anderen Menschen gegenüber verbittert sind. Weil wir selbst von Gottes Gnade leben, geht es uns etwas an, wenn Menschen hungern, kein sauberes Wasser haben, Studentinnenin Nairobi sich prostituieren, um ihr Studium zu finanzieren, Kinder keine Chance auf Bildung haben oder mein Nachbar seine Frau verprügelt. Mit uns und durch uns ist Gott an diesen Orten! Welche Konsequenzen hat das? Von der Missio Dei her zu denken heißt auch: Strategien entwickeln und nach Wirksamkeit fragen. Zugleich führt uns das ins Gebet, das uns in die Freiheit und manchmal in die Verpflichtung führt, dass uns Gott überraschende Wege führen darf.
Mission der Zukunft – und jetzt?
Die Mission der Zukunft wird von Menschen geführt sein, die ganz und gar in dem Kontext zu Hause sind, um den es geht. Die Aufgabe der Expats wird eine unterstützende sein. Die Mission der Zukunft denkt mehr in Gemeinschaften von Jesus-Nachfolgern als in Programmen und Kirchengebäuden. Mission der Zukunft sucht Wege, in die Reife, die Selbstständigkeit und Multiplikationsfähigkeit von Christen zu investieren. Sie setzt das „zu Jüngern machen“ ins Zentrum ihrer Bemühungen. Mission der Zukunft sucht eine neue Qualität der globalen Zusammenarbeit, die nicht zuerst in Verträgen und Absichtserklärungen denkt, sondern an einer tieferen, an der Beziehung interessierten und in der Beziehung verwurzelten Zusammenarbeit interessiert ist, die am Ende alle Beteiligten verändert. Schließlich nimmt Mission der Zukunft die transformierende Kraft des Evangeliums ernst. Es ist eine umfassend gute Nachricht: zur Transformation von Herzen genauso wie zur Transformation von ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen, die nicht die Schönheit und Gerechtigkeit Gottes atmen. Nicht aus einer Hybris heraus, die Welt zu retten zu wollen, sondern um Orte zu schaffen, die davon erzählen, wie es ist, wenn Gott auf den Plan tritt, wenn sich seine Gerechtigkeit durchsetzt.
Besonders aus westlicher Perspektive verschließt sich der Aufbruch in die Zukunft nicht der notwendigen Aufarbeitung imperialer und kolonialer Mission, sondern ist willens und fähig die eigene Rolle kritisch zu reflektieren. Nicht zuletzt brauchen wir neue Begriffe, Bilder und Narrative, um davon zu erzählen, was mit Mission gemeint ist. Der Begriff selbst – also Mission – ist aus meiner Sicht nicht mehr hilfreich, um das Anliegen zu transportieren, das wir in unserer christlichen Blase mit dem Begriff positiv verbinden.
Es warten also Aufgaben auf uns. Dabei braucht uns nicht bange werden. Gott ist derselbe. Er hat den Überblick. Er behält ihn – so gut! Und mit ihm zusammen gestalten wir Zukunft. Er nimmt uns mit hinein. Eine wunderschöne und zugleich zerrissene Welt braucht die transformierende Kraft des Evangeliums. Die Welt braucht Sie, braucht uns. Weil durch uns das Licht Gottes an diese Orte kommt. Es ist ein Geheimnis. Danke, dass Sie mitmachen!
Thomas Schech ist Vorstandsvorsitzender
Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai – Juli 2023) erschienen.