Vom Ghetto zum Klavier

Vom Ghetto zum Klavier

Vom christlich sozialisierten Kind zum Kleinkriminellen und zurück zu Gott. Wir stellen vor: Ting, Referent für Mission und Musik.

Gleich kann alles vorbei sein. Vor Ting und seinen Leuten steht ein Typ mit Pistole, aufgebracht weil sie seinen Bruder zusammengeschlagen haben. Das sind „Erlebnisse, wo Leute unmittelbar neben dir stehen und ‘ne Waffe ziehen und du nicht weißt, trifft es dich oder nicht? Du weißt nicht, hat er sich unter Kontrolle oder knallt er dich ab. Das waren so Momente, wo ich wusste, ich sollte was an meinem Lebensstil ändern.“ Ting lacht über den paradoxen Anklang: „Deshalb bin ich dann auf die Bibelschule gegangen.“

Ting brennt für das Evangelium. Insbesondere hat er die „Ghetto-Kids“ auf dem Herzen. Wo sie sind, da war er auch – obwohl er in einer christlichen Familie aufwuchs. Tings Eltern kamen aus Vietnam nach Deutschland und arbeiteten in Hannover ehrenamtlich als Übersetzer. Dabei erreichten sie so viele Menschen mit dem Evangelium, dass eine Gemeindegründung entstand. Schon für den kleinen Ting war Gott real und jemand, mit dem er immer sprechen konnte.

Als Schüler einer christlichen freien Schule wuchs er weit weg von der Welt da draußen auf. Er sah seine Eltern vorleben, was es heißt, für Gott alles zu geben. Er leitete jeden Morgen mit seinem Keyboard den Lobpreis im Morgenkreis und ließ sich mit elf Jahren taufen.

Dann kam er auf eine Gesamtschule. Hier lernte er Freunde kennen, mit denen er regelmäßig zu rauchen und trinken begann. Mit 13 Jahren kam die Abhängigkeit von Marihuana dazu. Ein bis zwei Jahre später nahm er harte Drogen: Ecstasy, Kokain und LSD. Außerdem wurde er vermehrt straffällig: Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Vandalismus, Einbrüche. „Wir haben Straßenschilder von einem Dorf zum anderen rausgerissen – alles für Adrenalin und Faxen machen.” Mehrfach wechselte Ting die Schulformen – zwischen Hauptschule und Gymnasium ist alles dabei.

Doch weg vom christlichen Leben war Ting nicht. „Ich habe Gott nie verleugnet. Aber ich hatte auch keine Freunde in der Gemeinde. Ich bin trotzdem auf christliche Veranstaltungen gegangen und habe mich da auch Gott hingegeben, ernsthaft Vergebung und Befreiung gesucht und Lobpreis gemacht. Ich wollte zurück zu Gott – auch die ganzen fünf Jahre – aber ich hatte einfach keine Kraft. Ich hatte keine Alternative. Deshalb ist Jugendarbeit auch so wichtig für mich – weil ich weiß, was es bedeutet, wenn du keine Family hast in der Kirche.”

Ich wollte zurück zu Gott – aber ich hatte einfach keine Kraft.

Mit 19 Jahren kam der radikale Wandel: Bibelschule. „Das war krass.“ Er war es nicht mehr gewohnt, als Christ unter Christen zu sein. „Was macht man am Wochenende als Christ? Im Kreis sitzen und ‚Kumba ya‘ singen oder was?“, fragt er spaßhaft. Leben und Spaß ohne Drogen – wie geht das?

Der junge Mann teilte seinen Flur mit einem Ex-Nazi und einem ehemaligen Satanisten – für alle drei galt eine dreimonatige Probezeit. Am Ende war Ting der einzige von ihnen, der die Bibelschule nicht vorzeitig verlassen würde. Am ersten Tag nach der Anreise ging Ting im Wald spazieren. „Gott, jetzt bin ich da, und nun?”, betete er zum Himmel. Ihn traf ein Schlag. Er fühlte förmlich, wie eine göttliche Faust seine Überlebensmauer von Härte, Kriminalität, Lügen und Selbstschutz einschlug. Sein ganzer Körper war wie elektrisiert, heiß und er spürte eine göttliche Freude und Freiheit, die keine Droge ihm jemals geboten hat. „Du bist Gott”, verstand er. „Du bist das Original, alles andere ist Fake”, flüsterte er vor sich hin. Freudeplatzend und überwältigt ging er zurück, um es allen zu berichten. Dieser Tag war der Beginn eines kompletten Lebenswandels.

Auf der Bibelschule verstand Ting zum ersten Mal, dass Jesus für ihn gestorben ist. „Da rede ich jetzt nicht weiter drüber, sonst heul ich.“ Jesus ist für ihn keiner, der einfach verurteilt. „Es war die Liebe, die Zachäus (s. Lukas 19) verändert hat. Und wir Christen sind oft so eklig. Wir sind manchmal schlimmer als die Heiden und denken, wir sind die Richter. Liebt doch die Leute erst. Lernt die doch kennen. Häng doch erst mal ab.“ Diese Botschaft ist ihm tief ins Herz gesunken und von da aus fließt sie heute in Lieder. „Liebenswert” – so heißt die Single, mit Veröffentlichung in diesem Jahr.

Ting holte sein Abitur nach und studierte Soziale Arbeit. 2017 begann er im Seehaus, einer christlichen Justizvollzugsanstalt in Leonberg, als WG-Betreuer der 14 bis 23-jährigen Bewohner zu arbeiten. „Du bist einer von uns“, hörte er sie oft sagen. Die Zeit war sehr intensiv, aber auch erschütternd. „Wenn man ihre Geschichten kennt, ist es selbsterklärend, warum sie da sind, wo sie sind. Jeder Mensch hat es verdient, in Liebe eine Chance auf Veränderung zu bekommen.“ Von dort aus reiste Ting mit seiner Familie als Missionar aus, um weiterhin jungen Menschen von Jesu Liebe zu erzählen. Nach einem Burn-out ging es jedoch nicht weiter. Stattdessen dient er nun in Deutschland bei GoGlobal als Referent für Mission und Musik. Er reist quer durch Deutschland, besucht Jugendgruppen, baut Netzwerke auf und möchte durch seine Leidenschaft Musik Menschen mit dem Evangelium erreichen. Aber, stellt er fest: „Meine größte Gabe ist nicht mal Musik. Meine größte Gabe ist, dass Gott mir Glauben und Liebe geschenkt hat und ich Menschen damit erreichen kann. Ich weiß um meine Schwäche, umso mehr aber auch um seine Stärke. Gott ist Liebe, das weiß ich, und keiner sollte einen Tag ohne diese Liebe leben müssen.“

TING

So alt bin ich: 35 Jahre
Hobbys: Fußball, Tischtennis, Kochen, Sauna, Computer spielen
Das genieße ich: Zeit mit meiner Familie, einen guten Döner mit Uludag, eine spannende Schachpartie
Job bei der AM: Jugendreferent für Musik und Mission Bibelvers, der mir viel bedeutet: „So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.” (Römer 8,1)
Jesus für mich: Lebensretter! Bester Mann! Liebe in Person!
Bester Song: Psalm 91
Zuhause ist für mich: Nicht auf dieser Welt. Der Himmel. Bei Gott. Und hier auf Erden: Da, wo meine Familie ist.
Ich liebe an Teens: die Energie, den Wissensdurst, das Unberechenbare, die Offenheit

Evelyn Clement ist Redaktionsleiterin

Das Portrait ist in unserem Magazin move (August – Oktober 2024) erschienen.