In Japan nehmen sich sehr häufig Menschen das Leben. Gerhard Deimel und seine Gemeinde wissen um die Hintergründe und begegnen der gesellschaftlichen Not.
Vorige Woche war in den Nachrichten zu lesen, dass eine 17-jährige Schülerin eine 32 jährige Passantin mit in den Tod riss, als sie vom Dachgarten im 12 Stockwerk eines Geschäftsgebäudes beim Bahnhof in Nishi-Yokohama in die Tiefe sprang.
Japan gehört zu den Ländern weltweit mit sehr hohen Selbstmordraten. Ganz besonders bei Schülern und Studenten sowie Männern im mittleren Alter zwischen 40 und 60 Jahren liegt Japan im Spitzenfeld. In den letzten Jahren hat vor allem die Zahl der Selbstmorde bei Schülern der Oberschule aber auch Männern zwischen 40 und 60 Jahren zugenommen. Dies liegt insbesondere daran, dass Menschen ihren Selbstwert aus ihren erbrachten Leistungen und dem Erfolg in Schule, Studium und Beruf beziehen.
Auch in unserer Arbeit als Missionare in Gifu haben wir festgestellt, dass Einsamkeit, wirtschaftliche Schwierigkeiten und Kontaktarmut, sowie zunehmende psychosomatische Erkrankungen den Menschen zu schaffen machen. Sie sind die häufigsten Ursachen für Suizid. Neben Frauen und Schülern ist dies auch bei älteren, alleinstehenden Menschen zu beobachten.
Vor der Coronapandemie war es vor allem der Leistungsdruck in der Schule bzw. bei der Arbeit, die Menschen in den «selbstgewählten Tod» trieb. Der Druck der Arbeitgeber auf ihre Angestellten wird zunehmend mehr. Oft sollen sie 80, zumeist unbezahlte, Überstunden im Monat machen. Selbstmord auf dieser Grundlage hat in Japan sogar eine eigene Bezeichnung: „Karoshi“, also „Tod durch Überarbeitung“.
Auswirkung davon ist, dass Kinder zum Teil viel alleine sind. Im Vorjahr trafen wir bei unserem traditionellen Ostereiersuchen in einem Park nahe der Gemeinde einen Buben, der sich oft im Park oder auf der Straße herumtreibt. Oft ist er hungrig, doch seine Eltern haben kaum Zeit für ihn. Wir luden ihn damals ein, an der Ostereiersuche teilzunehmen.
Begrenzte Hilfen und Maßnahmen
Damit Karoshi weniger geschieht, ergriff die Regierung drastische Maßnahmen. Sie stellten Betriebe öffentliche an den Pranger, deren Mitarbeiter mehr als 80 Überstunden im Monat arbeiten mussten. Dadurch bewirkte sie um 2018 bei vielen Betrieben ein Umdenken. In der Folge sank die Selbstmordrate deutlich.
Schon seit den 2010-er Jahren hatte die Regierung in Tokio viele Maßnahmen zur Reduzierung von Suizid gesetzt. Das Ziel der Maßnahmen war es, die Selbstmordrate bis 2025 um 20% zu senken. Es gelang innerhalb von 5 Jahren die Zahlen von mehr als 25.400 Selbstmorden im Jahr 2014 auf 20.000 im Jahr 2019 zu mindern. Durch die Coronapandemie stieg jedoch die Zahl wieder um 10 % und hat sich in den letzten beiden Jahren bei nun knapp 22.000 eingependelt. Laut Medienberichten stieg die Selbstmordrate von Frauen jedoch zwischen 2021 und 2022 deutlich um 88%.
Christliche Kirchen versuchen den Selbstmordraten entgegenzuwirken und haben Projekte gestartet. Im September 2023 wurden beim «Japanischen Kongress für Evangelisation», der alle 7 Jahre stattfindet, weitere Schritte getan. Die Zusammenarbeit verschiedener christlicher Kirchen, Gemeinden und Denominationen wurde mit den politischen Gemeinden angestrebt, um der zunehmenden Armut, Einsamkeit und Isolation zu begegnen.
Der Junge aus dem Park blieb damals nicht alleine. Er freundete sich mit dem Sohn eines unserer Gemeindeglieder an, der an der gleichen Schule ist. So begann er regelmäßig zu kommen. Anfangs kam er nur um etwas zu essen zu erhalten oder um zu spielen. Nun auch, um die biblischen Geschichten über Jesus zu hören. Er machte beim Basteln mit und half bei Vorbereitungen für die Kindergottesdienste oder Kinderevents unserer Gifu Riverside Church. Es war eine Freude zu erleben, wie er zunehmend Vertrauen gewann und liebevoll von den Geschwistern aufgenommen wurde.
Gemeinde-Projekt in Gifu
Die Gifu Riverside Church, in der wir seit Ende 2020 arbeiten, bietet seit April 2024 ein Sozialprojekt an. Es heisst «Kodomo shokudo». Wörtlich übersetzt heißt das «Kinderkantine». Der Name mag etwas eigenartig klingen, denn dort werden nicht nur Mahlzeiten für Kinder und Schüler, sondern auch für alle Altersschichten bis hin zu den Senioren über 75 Jahren angeboten. Für Schüler bis 18 Jahren und Senioren über 75 Jahren ist das Essen sogar kostenlos. Die anderen Teilnehmenden zahlen 300 Yen (also weniger als 2 Euro). Für die Schüler, die am Samstag und Sonntag oft allein sind und auch alleine essen müssen, gibt es die Möglichkeit Hausaufgaben zu machen und dabei Unterstützung zu bekommen. Zudem soll es ein Ort der Begegnung von Jung und Alt sein. Ziel ist es dabei, dass die Teilnehmenden Gemeinschaft und Gottes Liebe erfahren.
Gerade für solche einsamen Kinder wie dem Jungen aus dem Park und kontaktarmen Menschen soll das Kodomo shukodo ein Ort oder eine Oase sein, wo sie erfahren, dass sie wertvoll, angenommen und von Gott bedingungslos geliebt sind. Armut, Isolation und Einsamkeit zu begegnen und den Menschen Gottes Liebe zu erweisen, ist die Motivation unserer Arbeit. Wir wollen den Menschen Hoffnung, Zukunft und Lebensfreude zuteilwerden lassen. Die Liebe, die wir durch Jesus Christus in unserem eigenen Leben erfahren, wollen wir weitergeben.
Kürzlich kam der Junge aus dem Park sogar mit seinen Eltern, um ihnen zu zeigen, wo er immer etwas zu essen bekommt und spielen kann und neue Freunde gefunden hat. So beten wir, dass wir auch an seine Eltern herankommen und sie empfänglich für Gottes Liebe werden. Wir beten, dass er Gottes Liebe erfährt, Gott sein Herz anrührt und er eine Beziehung mit Jesus beginnt.
Den Artikel schrieb Gerhard Deimel zum Anlass des Welt-Suizid-Präventionstag am 11 September.
Junko und Gerhard Deimel sind Missionare in Gifu, Japan