Region Kaukasus: Die Enkel-Kinder der Zwangskonvertierten begehren auf

Region Kaukasus: Die Enkel-Kinder der Zwangskonvertierten begehren auf

Johannes Reimer
berät und begleitet
die Arbeit in der
Region Kaukasus.

Geistlicher Aufbruch im Schwarzmeer-Raum.

Überall im türkischen Schwarzmeerraum bilden sich kleine christliche Gemeinden. Noch gestern schlicht undenkbar, brechen vor allem junge Leute aus dem festen Korsett des Islam aus und suchen den Anschluss an Christliche Gemeinden.

Was auffällt, nur selten geht dieser Aufbruch auf das Konto Christlicher Missionare. Sie haben zum einem kaum Zugang zu der Region, zum anderen ist die Region seit Jahrzehnten kaum auf dem Radar westlicher Missionswerke. Die Hinwendung der jungen Menschen zum Glauben an Christus hat vielmehr mit der Entdeckung ihrer christlichen Wurzeln zu tun.

In der großen Mehrheit handelt es sich hier um Enkelkinder von zwangsislamisierten Armeniern und Griechen. Die Großeltern dieser jungen Leute wurden während des Genozids an den Armeniern (1915-1916) unter der Androhung des Todes zum Islam konvertiert. Ganze Dörfer wechselten damals ihre Religionsangehörigkeit. Wer standhaft blieb, wurde brutal ermordet.[1] Am schwersten traf es dabei Frauen und Kinder. Hundertausende von ihnen wurden in islamische Familien aufgenommen, wo sie gezwungen wurden ihre armenische Identität, Sprache und den christlichen Glauben aufzugeben. Aber viele von ihnen haben ihre Wurzeln nicht vergessen.[2]

Heute spricht man von diesen Zwangskonvertiten als Krypto-Armeniern. Mehrere Millionen von ihnen leben in der Türkei. Der türkische Journalist Erhan Basyurt bezeichnet die Kryptoarmenier als „Familien, und in einigen Fällen ganze Dörfer und Nachbarschaften, die zum Islam konvertierten, um den Deportationen und Todesmärschen (von 1915) zu entkommen, aber ihr verborgenes Leben als Armenier fortsetzen, untereinander heiraten und in einigen Fällen heimlich zum Christentum zurückkehren“.[3]

Und auch nach dem Völkermord unterdrückte der türkische Staat jede unabhängige Entwicklung der ehemalig christlichen Bevölkerung, wie das neueste Buch der in München lehrenden Historikerin Talin Suciyan zeigt.[4] Erst in den 1960er Jahren entstand in der Türkei so etwas wie eine liberalere Haltung den Andersgläubigen gegenüber. Schon damals gab es die ersten Beispiele von Rückkehr einiger Krypto-Armenier zum Christlichen Glauben.[5] Freilich oft führte diese Re-Konversion zur Auswanderung aus der Türkei oder und weitgehenden Aussonderung aus der türkischen Gesellschaft.

Die armenische Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir – vor drei Jahren wurde sie wieder zerstört.
(Von Rob in der Wikipedia auf Armenisch – Übertragen aus hy.wikipedia nach Commons., GFDL, Link)

Ein bezeichnendes Beispiel ist der Wiederaufbau der im Jahre 1376 erbauten Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir, Ostanatolien, einst eine weitgehend von Christlichen Armeniern bewohnte Stadt. Die Surp-Giragos-Kirche ist das bei weitem größte armenische Gotteshaus im Mittleren Osten. Und der Wiederaufbau des Gotteshauses im Jahre 2012 und mit ihm der armenischen Gemeinde, zu der sich auch eine Reihe islamisierter Armenier hielten, war ein besonderes Ereignis für die Armenier in der Türkei. Leider wurde die Kirche im Zuge des kurdisch-türkischen Krieges wieder zerstört.[6]

Und unter Präsident Tayyip Erdogan und seiner konservativ-islamischen AKP ist der türkische Staat wieder massiv dabei seine Turkisierungs-Politik voranzubringen. Ethnische Minderheiten werden überall in ihren Rechten eingeschränkt und sollen nach dem erklärten Willen aus Ankara unter die eine türkische Nation nivelliert werden. Und diese wird als islamische Nation verstanden. Für die christliche Minderheit bleibt hier wenig Raum. Das ist eines der Themen bei den ins Stocken geratenen Gesprächen zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union.

Auf der Suche nach eigener Identität.

Der brutale Krieg der türkischen Regierung gegen die Kurden im eigenen Land und die zunehmende Unterdrückung anderer ethnischer Minderheiten hat in der jungen Generation der Türken zu einer unerwarteten Reaktion geführt. Immer mehr junger Türken fragen sich, wer sie wirklich sind. Und nicht wenige entdecken ihre christlichen und nicht-türkischen Wurzeln. Dieser Prozess wird unter anderem auch massiv von der Tatsache begünstigt, dass das Ausbildungsniveau der türkischen Bevölkerung und damit auch ihre Fremdsprachenkenntnisse enorm gewachsen sind, was den Zugang zum Internet und der hier vorhandenen Information zur Entwicklungen im Osmanischen Reich und der Türkischen Republik in den letzten 100 Jahren ermöglicht.

Viel hat dazu das Buch der türkischen Anwältin Fethiye Çetin mit demTitel „Anneannem“ („Meine Großmutter“) beigetragen.[7] Darin erzählt sie die Lebensgeschichte ihrer Großmutter Seher, die – so hatte Çetin Ende der 1970er Jahre erfahren – in Wahrheit gar keine Türkin, sondern Armenierin war: Ihr wirklicher, jahrzehntelang verborgener Name lautete Heranuş. Als kleines zehnjähriges Mädchen war Heranuş dem Tod entronnen, als ein türkischer Gendarm sie auf einem Deportationsmarsch ihrer Familie entriss. Er zog sie als seine Adoptivtochter auf, sie bekam einen neuen Namen und eine muslimische Identität verpasst.

Çetins Buch brachte eine kleine Lawine ins Rollen, wie Christian Meier berichtet. Denn wie sich rasch zeigte, war die Geschichte ihrer Großmutter kein Einzelfall. Die Anwältin schreibt: „Auf einmal begannen mir junge Türken zu schreiben, die sich die Frage stellten: ‚Auch meine Großmutter hatte keine Verwandten – warum eigentlich?’“. In Van, in Muş, in Diyarbakir: Überall meldeten sich Personen, die herausgefunden hatten, dass es in ihrer Familie Armenier gab – meist in der Generation der Eltern oder Großeltern. Sie waren während der Deportationen ihren Familien weggenommen worden oder aber auf der Flucht durch Wälder und Dörfer umhergeirrt, bis sie schließlich bei irgendeiner Familie ein neues Zuhause fanden. In der Mehrzahl der Fälle waren es Mädchen und junge Frauen, die auf diese Weise überlebten – Bräute, zusammengeraubt während des Völkermords.[8]Jetzt, Jahrzehnte später kam die Wahrheit ans Licht.

Die Wiederentdeckung der unterdrückten ethnischen und religiösen Wurzeln unter den Krypto-Armeniern ist es, die die neue Offenheit für den Christlichen Glauben in der Türkei begründet.

Chance für Evangelisation und Gemeindebau.

Das erwachte Interesse unter den jungen Türken für die eigenen, eventuell christlichen Wurzeln stellt, meines Erachtens, eine herausragende Chance für die Evangelisation und Gemeindebau in der Türkei dar. Millionen von türkischen Bürgern sind betroffen. Ihr potenzielles Interesse für den Christlichen Glauben ihrer Vorfahren, kann ungeahnte Möglichkeiten für das Gespräch über den Glauben und das Evangelium eröffnen. Und der am Anfang beschriebener Aufbruch am Schwarzen Meer macht deutlich, wie es gehen kann. Nirgendwo in der Welt lassen sich Menschen auf Dauer ihrer wahren Identität berauben, auch wenn es in manchen Fällen Generationen dauern kann.

Für uns in sogenannten Christlichen Welt stellt sich damit die Frage, wie wir als weltweite Gemeinde Jesu einen solches Prozess positiv unterstützen können. Mehrere Gedanken sind es Wert, missionsstrategisch bewegt zu werden.

  1. Wir sollten Kraft und Zeit in wissenschaftliche Erforschung der Folgen des Völkermords in der Türkei investieren und darauf achten, dass die Ergebnisse der Forschung breit im Internet publiziert werden. Auch und vor allem in Türkisch. Das wird das Interesse der Krypto-Christen in der Türkei weiterhin stärken.
  2. Wir sollten uns für Christen in der Türkei politisch einsetzen. Die Türkei klopft in die Türen der Europäischen Union. Die Einhaltung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit sind zentrale Forderungen der EU an das Land am Bosporus. Entsprechend sollten die Verletzungen dieser Freiheiten an die Kommission gemeldet werden.
  3. Wir können die kleinen neuen Gemeinden im Gebet und finanziell unterstützen. Die Kaukasische Mission der Allianzmission unterhält enge Beziehungen zu diesen Kreisen und wird dafür sorgen, dass die Hilfe auch ankommt.
  4. Wir können die Beziehung zwischen den neuen Christen und den Gemeinden im Mutterland Armenien stärken, Verbindungen schaffen und diese pflegen. Auch hier ist die Kaukasische Mission bereits aktiv.

Quellen:

[1] Die bisher ausführlichste Studie zum Völkermord an den Armeniern ist Raymond Kévorkian: Le génocide des Arméniens. (Paris: JACOB 2006); Ders.: The Armenian genocide: a complete history.  (London: Tauris 2012).

[2] Siehe mehr in: Tessa Hofmann (Hrsg.): Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922. (Münster: LIT 2004).

[3] KRYPTOARMENIERINNEN UND KRYPTOARMENIER: DIE VERGESSENEN EINES VÖLKERMORDES, in: Renk, 10.10. 2022, https://renk-magazin.de/kryptoarmenierinnen-und-kryptoarmenier-die-vergessenen-eines-voelkermordes/ .

[4] Talin Suciyan: Armenierinnen und Armenier in der Türkei. Postgenozidale Gesellschaft, Politik und Geschichte. (Berlin: DeCruyiter 2021).

[5] Kryptoarmenierinnen.

[6] Siehe dazu: Susanne Güsten: Armenier in Anatolien – Islamisierte Christen, in: Deutschlandfunk, 18.02. 2019, https://www.deutschlandfunk.de/armenier-in-anatolien-islamisierte-christen-100.html (12.11.2024).

[7]  Fethiye Çetin: „Anneannem“. (Istanbul: Metis Yayinlar 2012).

[8] Christian H. Meier: Im Land der geraubten Mütter, in: Cicero, 16. April 2015, https://www.cicero.de/aussenpolitik/armenier-der-tuerkei-im-land-der-geraubten-muetter/59131 (13.11.2024).