Globaler Klassenraum für TCKs

Globaler Klassenraum für TCKs

Wie unterrichtet man Kinder, die am anderen Ende der Welt in einer anderen Kultur leben, und was ist für ihre Entwicklung wichtig? Georg Pflüger im Interview über WEISEn Unterricht und achtsames Staunen.

Herr Pflüger, Ihren Namen findet man bei drei Institutionen: einer Wetzlarer Schule, der Deutschen Fernschule und der schulexpert GmbH. Was verbindet die drei?

Das muss man geschichtlich sehen. Die deutsche Fernschule ist ja der älteste Verein in dieser Trias. Dann kam 2007 die Wetzlarer Schule dazu und 2015 die schulexpert GmbH – eine Schul-Beratungsgesellschaft. In der deutschen Fernschule haben wir 2003/2004 einen Prozess durchgemacht, wo wir gefragt haben: „Was ist eigentlich unser Ziel? Wie kann man das, was wir tun, in einem Satz zusammenfassen?“ Und da sind wir auf folgenden Satz gekommen: „Wir
sind Ihr Partner in der Sorge um Ihr Kind.“ Das ist auch das, was die drei Standbeine verbindet.

Sie sind Lehrer, haben aber ab 1995 samt Familie für vier Jahre in Jerusalem gelebt. Warum?

Das war damals ein Riesenschritt für uns. Wir hatten ja drei U5-Kinder, die jüngste gerade mal sechs Monate alt. Meine Frau und ich hatten den Eindruck, dass das für unsere ganze Familie der richtige Schritt war. Wir haben es auch nie bereut. Wir haben so viel erlebt – so viel Bereicherndes mitbekommen. Wir waren die Haus-Eltern des Johanniter-Hospizes. Wir haben das Team geleitet, den Gästebetrieb und dafür gesorgt, dass die Menschen, die da ins Heilige Land kommen, eine gute Betreuung erhalten – sowohl in praktischen als auch in geistlichen Fragen.

Das war gerade das Endstadium des sogenannten Friedensprozesses. Es gab Bomben-Attentate in Jerusalem. Einmal bin ich selbst in der Jerusalemer Neustadt mit meinen beiden Kindern unterwegs gewesen und an einem Punkt, wo wir Minuten zuvor waren, ging eine Bombe hoch und viele Menschen sind gestorben. Das war ein massiver Eindruck, den man nicht vergisst und wo man sich in Gottes Hand geborgen weiß.

Die Deutsche Fernschule – die Sie 15 Jahre geleitet haben – entstand ab 1971, weil ein Lehrer Lernbriefe für eine Missionarsfamilie in Kenia erstellt hat. Als Verein wurde sie 1976 von der Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Missionen (AEM) gegründet. Warum haben Sie sich nach Ihrer Rückkehr aus Israel hier engagiert?

Jemand in meinem gemeindlichen Umfeld hat mich angesprochen und wir haben uns das intensiv überlegt. Ich hatte ja keine Ahnung von Fernschule. Aber dann habe ich doch gemerkt, dass da was wirklich besonders Interessantes vorlag. Schon rein pädagogisch, weil dieses Schreiben der Lehrbriefe wirklich eine ganz hohe Form der didaktischen Kunst erfordert. Sie müssen sich genau vorstellen, was das Kind Schritt für Schritt macht, und müssen das, was sie dann machen, auch so kommentieren, dass die Eltern verstehen, warum sie das machen. Dann aber auch geistlich, weil dieser aus der AEM stammende unternehmerische Impuls, der zur Gründung der Schule geführt hat, zunächst einmal natürlich die Not der Missionare im Ausland beheben wollte. Denn Sie haben keine Schule vor Ort und fragen sich: „Was machen wir dann mit den Kindern?“

Zum anderen setzte dieser unternehmerische AEM-Impuls auch an einem ganz kritischen Punkt des gesamten deutschen Schulwesens an, nämlich an Fragen wie: „Welche Rolle spielen eigentlich die Eltern in der Schule? Welche Werte werden vermittelt? Und wie kommt das einzelne Kind in der Schule vor?“ Und daraus sind dann viele Lehrbriefe, eine Schulgründung und später unser WEISE-Konzept entstanden. Es ist ein Konzept, das sehr Werte-basiert ist und ein Umfeld schafft, das Kindern, Lehrern und auch den Eltern guttut.

Sie haben sich intensiv mit „Third Culture Kids“ (deutsch: Drittkulturkinder, TCK) beschäftigt und eines der wegweisenden Bücher zu dem Thema mit herausgegeben. Was sind „Third Culture Kids“ – in einem Satz?

Die Deutsche Fernschule hat sich damals überlegt: „Wie können wir unserer Zielgruppe – das sind eben die deutschen Eltern im Ausland – am besten helfen?“ Dann sind wir auf diese Thematik der TCKs gestoßen. Das Buch war eine Kooperation mit dem Francke-Verlag in Marburg.

TCK ist ein feststehender Begriff in der anthropologischen Forschung und bedeutet, dass eine Person, die einen bedeutenden Teil ihrer Entwicklungsjahre in einer anderen Kultur als der ihrer Eltern verbracht hat, eine eigene Kultur entwickelt. Die erste Kultur ist die Kultur der Eltern, die zweite die Kultur des Landes, in dem man zum Teil aufwächst, und die dritte Kultur ist – egal in welchen Ländern diese Kinder mit ihren Eltern sind – das was als Third Culture bezeichnet wird. Die Kinder, die so aufwachsen, sind dann die TCKs.

Ihre besonderen Stärken und Herausforderungen?

Die Kinder, die in mehreren Kulturen aufwachsen, sind von Kindesbeinen an gewöhnt, Beziehungen zu jeder Kultur aufzubauen. Aber sie identifizieren sich nicht wirklich damit. Viele Anteile werden in das eigene Leben integriert: Sprache oder auch bestimmte Verhaltensformen. Aber die Identifikation „Wer bin ich eigentlich?“ verbleibt dann beim Menschen mit so einem ähnlichen Hintergrund.

TCKs sind sehr flexibel. Sie können sich überall einleben, weil sie wissen: „Ich war z.B. bei den Indianern, dann kann ich jetzt auch z.B. nach Kairo Downtown.“ Sie sprechen oft mehrere Sprachen und sind dadurch sehr anpassungsfähig, auch kulturell sehr bewusst und fähig zu kommunizieren. Viele Diplomaten sind TCKs, die wieder in so einem internationalen Kreis landen.

Ihre Schwächen sind Probleme bei der Findung der eigenen Identität: „Wer bin ich eigentlich?“ Stellen Sie sich vor, Sie werden gefragt: „Na, wo kommen Sie denn her?“ Für jemanden, der in Deutschland aufgewachsen ist, ist das kein Problem. Aber für ein TCK geht dann gleich dieser innere Film ab: „Was meint der jetzt? Wo ich geboren bin, wo ich Grundschule, Sekundarstufe oder Studium gemacht habe?“ Diese besondere Identitätsfindung hat Auswirkungen in Bereichen wie Bindungsfähigkeit oder in der Fähigkeit zu trauern.

2011 waren 43 Prozent der Schüler der Deutschen Fernschule von Eltern aus dem kirchlichen Bereich. Was brauchen Missionarskinder für eine gesunde Entwicklung?

Wir haben ja mit Francke eine ganze Buchreihe zu dem Thema herausgegeben. Ganz kurz gesagt, ist für TCKs oftmals eine funktionale Familie sehr wichtig. Da liegen die Wurzeln für die eigene Persönlichkeit. Denn das ist ja das einzige, was – gerade wenn es Kinder sind, die oft umziehen – wirklich Kontinuität bietet. Als Zweites – gerade für ihre eigenen Lebensentwürfe, wenn die Kinder in die Pubertät oder ins Erwachsenenalter kommen – brauchen sie von den Eltern Freiheit und gerade dann Wertschätzung, wenn die Wahl der Kinder nicht den Erwartungen der Eltern entspricht.

Was kommt für Sie in Zukunft?

Ich bin jetzt 59 Jahre alt und glaube, dass noch einiges kommen wird. Unser großes Ziel ist, dass wir in Deutschland eine Schulmarke etablieren können, neben Montessori und Waldorf. Dahin ist es sicherlich noch ein weiter Weg, aber momentan öffnen sich viele Türen, wo wir merken: was wir tun, wird positiv gesehen und es wirkt bei den Kindern.

Welchen einen Satz geben Sie unseren Lesern und den Missionaren der Allianz-Mission mit?

Lukas 10,38: „Eines aber tut not …“ In diesem Bericht hat Martha versucht, Jesus zu bewirten. Und Maria saß einfach zu seinen Füßen und hat zugehört. Auf die Vorwürfe der Martha an Maria sagt Jesus: „Sie hat das bessere Teil erwählt. Eins aber tut not…“ Der Pädagoge Johann Amos Comenius hat am Ende seines Lebens ein Buch geschrieben –„Unum Nessesarium“ („Eins aber tut not“). Er merkt: Er hätte mehr hören, mehr achtsam, mehr abwartend handeln sollen – aus dem Hören heraus. Ich glaube, dass gerade für Missionare diese hörende, achtsame Haltung vor dem Wunder des Lebens wichtig ist. Ich glaube, dass echte Innovation – und das ist es, was wir in unserem Leben brauchen – nur aus dieser hörenden, achtsamen Haltung kommt.

Das Interview führte Simon Diercks, Leiter Communication & Media

Das ungekürzte Interview findest Du in unserem Podcast

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Februar – April 2020) erschienen.