Kein Heiliger Geist Junior

Kein Heiliger Geist Junior

Simon Diercks lässt sich von Jesus herausfordern, Gottes Reden und Wirken nicht nur im Leben von Erwachsenen ernst zu nehmen. Eine autobiographische Entdeckungsreise mit Lernauftrag.

Ich weiß nicht mehr, wer es war, aber in einer Predigt habe ich einmal den Satz gehört: „There is no baby holy spirit!“ (deutsch: „Es gibt keinen Baby Heiligen Geist“). Dieser Satz hat sich mir eingeprägt. Es gibt nur einen Heiligen Geist (Epheser 4,5). Gott hat keine Light-Version für Kinder vorgesehen, der erst noch mit ihnen erwachsen werden müsste. Wenn Gott durch seinen Heiligen Geist Menschen begegnet, spielt das Alter keine Rolle. Er sprach zu meiner 101-jährigen Großmutter durch denselben Geist, durch den er auch zu meiner sechsjährigen Tochter und zu mir spricht. Stellt sich die Frage, was das für meinen Umgang mit Kindern und ihrem kindlichen Glauben bedeutet.

Ich denke an Joel aus Jülich, an einen Jungen aus Saratow, einen aus Recife, ein Mädchen aus Ewersbach. Und an meine Kindheit.

Meine erste intensive Begegnung mit Mission hatte ich auf einer Gemeindefreizeit im Alter von sieben Jahren. Sie hieß Schwester Gertrud, war gefühlte 100 Jahre alt und erzählte mit einem faltigen Strahlen auf dem Gesicht davon, wie sie sich in Bangladesch dafür eingesetzt hatte, dass jedes Kind zumindest eine Schale Reis am Tag zu essen bekam. Zum Schluss ihres Berichtes fragte sie: „Wer kann ein Missionar sein?“ Und meine Hand ging nach oben: „Ich!“ Daran erinnere ich mich nicht mehr – meine Mutter aber um so genauer, die diesen Moment nie vergessen hat. Ein prophetischer Moment, bedenkt man, dass ich zwei Jahrzehnte später Pastor war und drei Jahrzehnte später für die Allianz-Mission arbeite. Nur eine impulsive Äußerung eines hyperaktiven Kindes?

Im Laufe der Jahre habe ich mit allen Altersgruppen von Kindern und jungen Erwachsenen gearbeitet: Kleinkinderbetreuung in meiner Hamburger Heimatgemeinde, Kindergottesdienst heute in Ewersbach, Jungscharleitung in Hamburg, Biblischer Unterricht, Teen-, Jugendkreis und Studentenarbeit in meiner ersten Pastorenstelle in Jülich. Und ich stelle fest: in jeder dieser Arbeiten habe ich erlebt, dass der Heilige Geist in den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen am Wirken war, wie er es bei mir von Kindheit an war.

Ich denke an Herbert: eine der grundlegend prägendsten Personen für mein Gottesbild – der „Kindergottesdienstonkel“ meiner Heimatgemeinde. Er verstand es, mit so viel Geduld mit uns Kindern und so viel Liebe von Gott als himmlischem Papa vorzuschwärmen, dass ich bis heute mit 38 Jahren an ihn denke, wenn ich mein Gebet mit „Papa“ beginne.

Ich denke an Joel, der mich als siebenjähriger Steppke mit großen Augen an einem Gründonnerstag in Jülich anschaute mit der Frage: „Darf ich auch das Abendmahl nehmen?“ Er hatte ein Jahr zuvor Gottes Wirken live erlebt, als seine Eltern uns als Gemeindeleitung baten – wie es in der Bibel in Jakobus 5 beschrieben ist – für ihn um Heilung zu bitten, weil er an einer den Ärzten unerklärlichen Symptomatik erkrankt war. Wir beteten, ich salbte ihn und Gott heilte ihn. Ganz unspektakulär. Und nun sagte er mir: „Jesus ist doch auch mein Freund, darf ich auch das Abendmahl nehmen?“ Nur ein Effekt christlicher Sozialisation?

„Jesus ist doch auch mein Freund, darf ich auch das Abendmahl nehmen?“

Ich denke an einen achtjährigen Jungen auf einer Kinderfreizeit in Saratow, Russland, wohin ich 2005 während meines Theologiestudiums für drei Wochen zu einem missionarischen Volontariat reiste. Er war ähnlich schwierig wie ich in seinem Alter und wäre fast nach Hause geschickt worden, weil er sich so danebenbenahm. Ich bestand darauf, dass er bleibt, und während dieser Kinderfreizeit veränderte Gottes Liebe etwas in ihm, so dass er danach voller Begeisterung seine Eltern mit in den Gottesdienst schleppte. Nur Gruppendynamik?

Ich denke an einen zehnjährigen Jungen im ehemaligen Straßenkinderprojekt Levante im brasilianischen Recife, wohin ich 2007 für einige Wochen mit meiner frisch angetrauten Frau Kerstin reiste. Für sie ein wichtiger Ort, hatte sie 2001 als erster Shorty bei Levante doch ein prägendes Jahr ihres Lebens verbracht. Dieser Junge kletterte auf mir herum und schaute mich schließlich nachdrücklich an, um mir mitzuteilen, dass Jesus mich liebe. Nur nachgeplappert?

Ich denke an ein elfjähriges Mädchen aus Ewersbach, das nach dem biblischen Bericht vom Kind Samuel, zu dem Gott redete, zum ersten Mal in ihrem Leben erlebte, wie Gott sie durch zufällig aufgeschlagene Bibelverse konkret in ihrer Schulsituation ermutigte. Nur Zufall?

Nein, ich kann und will nicht glauben, dass all das nur das Ergebnis von Zufall oder sozialen Prozessen ist. Ich glaube, dass der Heilige Geist genauso im Leben von Kindern wirkt und zu ihnen spricht, wie er das im Leben von Abermillionen erwachsener Christen weltweit Tag für Tag tut. Warum gibt es dann so viele Momente, wo ich heute den Eindruck gewinne, dass Kinder als weniger wichtig erachtet werden als die Erwachsenen: im Gemeindeleben, der Evangelisation, der Mission?

Schon von Jesus wird berichtet, dass er seine Nachfolger tadelte, weil sie inmitten des vollen Tagesprogramms eines Weltretters on tour Kinder nicht für eine wichtige Priorität zu halten schienen und sie nicht zu ihm vorlassen wollten: „Lasst die Kinder zu mir kommen!“ (Markus 10,14) Offensichtlich setzte er die Prioritäten damals anders und ich glaube, dass er das auch heute noch tut, wenn er durch seinen Stellvertreter – den Heiligen Geist (Johannes 14,26) – heute zu Menschen jeden Alters spricht.

Und ich glaube, dass wir Erwachsenen – nicht nur um der Kinder willen – gut daran tun, unsere Prioritäten neu zu ordnen, weil wir von ihnen, ihren Begegnungen mit dem Heiligen Geist, Entscheidendes für unseren Glauben lernen können. Nicht umsonst machte Jesus die Kinder seinen Nachfolgern bei anderer Gelegenheit zum verbindlichen Vorbild: „Wenn ihr euch nicht ändert und den Kindern gleich werdet, dann könnt ihr in Gottes neue Welt überhaupt nicht hineinkommen.“ (Matthäus 18,3) Was können und sollen wir also von den Kindern und ihrem Glauben lernen?

Ich erkenne Dreierlei: Vertrauen, Bedingungslosigkeit und Hingabe. Das ungebrochene kindliche Vertrauen, mit dem sich der brasilianische Junge in meine Arme warf und mit dem er auch Gott vertraute. Die konsequente Bedingungslosigkeit, mit der Joel mich um das Abendmahl bat. Die eben nicht erwachsen zu Ende reflektierte Hingabe, mit der der russische Junge seiner Familie diese Liebe, die er durch den Heiligen Geist erlebt hatte, zeigen wollte.

Kann ich, kannst du so ungebrochen Jesus vertrauen? So bedingungslos auf Jesus zugehen? So hingebungsvoll anderen Jesus zeigen? Ich kann und will von diesen Kindern viel lernen.

Jesus geht aber noch einen Schritt weiter. Er setzt nicht nur die Priorität darauf, dass Kinder – damals durch ihn, heute durch den Heiligen Geist – Gottes Liebe begegnen. Er macht sie nicht nur seinen Nachfolgern damals wie heute zum verbindlichen Glaubensvorbild. Er identifiziert sich mit ihnen: „Wer solch ein Kind in meinem Namen aufnimmt, nimmt mich auf.“ (Matthäus 18,5)

Jesus Christus identifiziert sich mit jedem einzelnen Kind auf dieser Welt. Dem Straßenkind in Manila, dem Sucht-erfahrenen Jungen aus einer von Alkohol zerrütteten russischen Familie. Dem analphabetischen Kind aus einem verarmten malischen Dorf. Der minderjährigen Prostituierten aus den Slums Nairobis. Dem Selbstmord begehenden Kulina-Kind im brasilianischen Dschungel. Und mit jedem einzelnen Kind in deiner Familie und Gemeinde, Kita und Schule.

Deshalb: weil Jesus Kindern genauso begegnen will wie Erwachsenen, weil er sie dir und mir zum Glaubensvorbild macht und weil er sich mit jedem einzelnen von ihnen identifiziert. Deshalb geht es in dieser Ausgabe der move einmal (fast) nur um sie. Und darum, wie unsere Missionare und viele Menschen weltweit mehr es zu ihrer Priorität machen, ihnen zu dienen, ihnen einen liebenden Papa-Gott vor Augen zu malen, wie es „Kindergottesdienstonkel“ Herbert tat, und ihnen Gottes Liebe praktisch spürbar zu machen.

Wie Kulina-Kinder nach ihren ersten Unterrichtswochen im Bildungszentrum Marinaha neuen Lebensmut fassen (S. 14). Wie tschechische Kinder das erste Mal in ihrem Leben von einem liebenden Gott hören (S. 32). Wie philippinische Kinder das erste Mal in ihrem Leben hören, dass sie kein Müll sind (S. 17). Wie malische Kinder strahlen beim Anblick ihrer neuen Schule, die durch die Hilfe von Kindern hier in Deutschland gebaut werden konnte (S. 22).

Was können wir von ihnen allen lernen? Wie können wir den Kindern in unserem Umfeld einen liebevollen Papa-Gott vor Augen malen? Wie kann Gemeinde – egal wo auf der Welt – zum heilsamen Lebensraum für Kinder werden? Und wie kann der Heilige Geist eine zerbrochene Kindheit heilen?

Denn aus Kindern werden Erwachsene. Erwachsene wie Peter*, ein Mann aus Jülich. Ich lernte ihn schätzen und seine zerbrochene Kindheit kennen. Er besuchte die Gemeinde, einen Glaubenskurs, war beim Umbau des Gemeindehauses stets treu und tatkräftig mit dabei. Aber Gott als liebender Vater? Das konnte er nicht annehmen und glauben. Weil das, was er in seinem Leben an Vaterschaft abbekommen hatte, mit so viel Geringschätzung, Ablehnung und Gewalt zu tun hatte, ihn fürs Leben geprägt und den Weg zu einem vertrauenden, bedingungslosen, hingebungsvollen Glauben an einen himmlischen Papa verbaut hatte. Ich bete, dass der Heilige Geist ihm diese Hindernisse irgendwann aus dem Weg räumt und er glauben kann.

Wie können wir heute Kindern Gott zeigen, damit es ihnen nicht ergeht wie Peter? Wie sie schützen vor Missbrauch, Gewalt und Armut? Wie sie schon von Kindesbeinen an mit Gottes Liebe vertraut machen? Wie sie schon in ihren ersten Jahrzehnten lehren, die Stimme des Heiligen Geistes in ihrem Leben zu erkennen?

„There is no baby holy spirit!” Es gibt keinen Heiligen Geist Junior. Machen wir Kinder zu unserer Priorität, lernen wir von ihrem Glauben und nehmen wir mit ihnen Jesus auf.

Simon Diercks, Leiter Communication & Media

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Februar – April 2020) erschienen.