Krieg auf dem Wasser

Krieg auf dem Wasser

Chris Orlamünder hat Betriebswirtschaft in Deutschland und England, sowie Theologie in Deutschland und USA studiert und arbeitet als Trainer beim Autohersteller Audi. Und rettet als Kapitän der „Sea-Eye“ ertrinkende Menschen aus dem Mittelmeer.

Chris, wie kommt ein Audi-Trainer auf ein Rettungsschiff?

Ich lebe in Regensburg und da gab es eine Initiative eines Malermeisters, der selbst Segler ist. Er hat gesehen, dass da Menschen im Mittelmeer ertrinken – Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa machen. Er sagte: „Es kann nicht sein, dass Menschen ertrinken. Auch wenn sie Flüchtlinge sind, sind sie nicht weniger wert.“ Und hat kurzerhand ein Schiff gekauft. Ich habe davon gehört, ihn kennengelernt und entschieden: „Ich bin Skipper und fahre selbst auch zur See. Ich unterstütze euch, wenn ihr mich braucht.“

Du hast also einen regulären Job und fährst immer wieder für zeitlich begrenzte Einsätze aufs Mittelmeer?

Als Crew-Trainer fliege ich mit Kollegen zusammen ans Mittelmeer und arbeite an Wochenenden die neuen Crews ein. Als Kapitän oder Einsatzleiter selbst auf einen Einsatz zu fahren bedeutet vier Wochen Urlaub. Als Arbeitnehmer und Familienvater kann ich das nicht jedes Jahr machen, weil meine Familie auch mal mit mir Urlaub machen will. Ich war zweimal draußen als Kapitän und werde dieses Jahr als Einsatzleiter rausgehen und große Teile meines Urlaubs dafür einsetzen.

Was war ein Moment bei deinen Einsätzen, der sich besonders eingeprägt hat?

Vorab: Ich bin selber schon mal fast ertrunken. Es war ein schöner Januarmorgen. Das Eis war nicht mehr so dick – viele Leute in der Nähe, die aber nicht geholfen haben. Ich konnte mich selbst rausbugsieren aus dem Eiswasser. Dann hatte ich einmal einen Mastbruch in einem schweren Sturm. Das dritte Erlebnis war, dass mein Bruder im Alter von vier Jahren in einem See fast ertrunken wäre. Das ist ein existenzielles Moment, warum ich mitmache: Ich war im Wasser und ich weiß, wie es ist, in Todesnot ums Überleben zu kämpfen. Das sind furchtbare Momente, wenn du im Wasser bist – alleine – und keine Hilfe hast. Deswegen steht es für mich bis heute außer Frage, dass man Menschen in unmittelbarer Lebensgefahr immer und sofort helfen muss. Und wenn ich das kann, weil ich keine Angst habe, auf See zu fahren, und die nötigen Lizenzen habe, dann setze ich das ein. Als wir das erste Mal draußen waren: Das ist wie Krieg auf dem Wasser. Das kann man gar nicht glauben, was sich da abspielt. Bei einem Einsatz im Mai 2017 waren wir mit vier Flüchtlingsschiffen und etwa 500 Leuten zwölf Stunden allein, bis die italienische Küstenwache ankam. Wir konnten diese 500 Leute nicht an Bord nehmen, weil es unsere Kapazität überfordert hätte. Wir haben begonnen, Kinder und Frauen zu evakuieren. Wir konnten sehr viele Leute retten, aber einige haben wir nicht retten können. Das sind tragische Momente gewesen, die wir als Mitteleuropäer und reiche Westler so normalerweise nicht mitbekommen.

Insgesamt wurden bei den Einsätzen, bei denen du beteiligt warst, mehr als 2000 Menschen gerettet. Aber ihr konntet nicht alle retten. Wie verarbeitest du es, Menschen auf See sterben zu sehen?

Bei diesem Einsatz hat fast jeder in der Crew Dinge gesehen, die wir nicht hätten sehen wollen. Einen Mann, den wir nicht mehr reanimieren konnten. Oder schreiende Kinder an Bord. Das zerreißt einem das Herz.

Viele von der Crew hatten danach einige Wochen Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen.

Aber das schlimme Leid haben nicht wir als Helfer, sondern die Menschen, die auf der Flucht sind und denen nicht geholfen wird. Warum sollen nicht wir auch mal ein bisschen geben? Warum soll es nicht uns etwas kosten? Dann nimmt man sowas schon in Kauf. Ich nehme diese Erfahrungen mit in mein Leben rein.

Wie haben die Einsätze deinen Glauben verändert?

Ich war früher über viele Jahre engagiert in der evangelistischen Arbeit, habe Hauskreise geleitet, gepredigt, ich war Ältester und ganz viel mit dem Wort und mit meinem Kopf engagiert. Aber die praktische Tat, die soziale Verantwortung, diakonisches Mithelfen war zu wenig ausgeprägt.

Die Gemeinde ist ein wichtiger Ort, wo wir Stabilität und Wachstum und ein Zuhause haben.

Aber eigentlich sollen wir Salz und Licht für die Welt da draußen sein. Und das ist ganz schön schwer. Das kostet was.

Mich kostet es dieses Jahr drei bis vier Wochen Urlaub, wo ich lieber mit meiner Familie segeln gegangen wäre. Mein Glaube kostet inzwischen mehr, aber er macht auch mehr Freude. Beides ist wichtig und beides beglückt mich: wenn ich erlebe, dass Menschen Schritte im Glauben gehen. Und wenn ich jemandem helfen kann, dass er überlebt.

Du bist auf einem Schiff, ein Notruf kommt rein, das erste Flüchtlingsboot kommt in Sicht, überladen mit Menschen. Wie erlebst du in solchen Situationen Gott?

In der Situation habe ich selten direkt an Gott gedacht, weil du handeln musst. Als Kapitän musst du dein Schiff kommandieren oder ausrichten. Wenn du Einsatzleiter bist, dann läuft eine Routine ab. In den Sekunden, wo du mal nachdenken kannst, passiert mir das dann öfters, wenn ich die Menschen gesehen habe, wie sie an Bord kommen – bei Männern, Frauen, Kindern – dann ist mir oft eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Wenn ich dann abends im Dunkeln auf die See rausblicke, habe ich den Eindruck, dass Gott sagt: „Du bist am richtigen Platz. Du hilfst hier Menschen, die von mir geliebt sind – genauso wie du geliebt bist und nicht einen Deut weniger.“

Bei einem Vortrag hast du gesagt: „Menschen nicht zu retten ist moralisches Versagen.“ Was bedeutet Menschenwürde für dich?

Ich habe den Satz auch nur wiederholt. Aber er bedeutet mir viel. Weil ich glaube, dass wir eine Mitverantwortung haben für das, was in der Welt passiert. Ich habe eine Mitverantwortung, wenn ich sehe, dass in meiner Straße, in meiner Nachbarschaft oder an meinem Arbeitsplatz etwas passiert, was nicht in Ordnung ist und was gegen die Menschenwürde verstößt. Wenn Menschen gemieden oder gemobbt werden. Aber ich habe auch ein Stück weit eine Mitverantwortung, wenn Menschen in meinen Urlaubszielen sterben und ich könnte was machen und ich mache nichts. Man kann sich finanziell engagieren, sich informieren, sich politisch engagieren und manche haben auch die Möglichkeit, auf so ein Schiff zu gehen; mitzuhelfen.

Da braucht es nicht nur Seeleute. Da braucht es auch immer ein paar willige Landratten, die hart im Nehmen sind.

Was sind das für Leute, die auf der „Sea-Eye“ mitfahren?

Ganz unterschiedlich. Studenten, Arbeitslose, Arbeiter, Büroleute. Alle Schichten, alle Professionen, Männer und Frauen, bis hoch zu einem Alter von 75 Jahren. Auch mit unterschiedlichen politischen Einstellungen. Im Gespräch ist der Tenor meistens: „Wir können die nicht ertrinken lassen – das sind Menschen. Ja, wir brauchen politisch bessere Lösungen. Aber: Menschen ertrinken zu lassen, einfach so wegzusehen und zu hoffen, dass das Problem dann weggeht – da machen wir nicht mit.“ Das verbindet die Menschen und ist ein wahnsinnig starkes Gefühl, dass du so eine heterogene Gruppe an Menschen hast, die sich in dieser Verantwortung zusammenfinden: „Ich sehe da nicht mit zu. Ich will was dagegen tun. Jeder einzelne Mensch, den wir retten, zählt.“

Du hast angesprochen, dass „Sea-Eye“ ein Verein ist. Wer trägt das Ganze?

2015 gegründet, ist es mittlerweile ein Verein mit 400-500 Mitgliedern, getragen ausschließlich durch Spenden. In den letzten Jahren unterstützten uns auch die Kirchen stärker: Freikirchen, einzelne Bistümer der katholischen Kirche und die evangelische Kirche. Und viele Leute, die – wie ich – einen Job haben, eine Familie haben und sich drei bis vier Wochen Urlaub abschneiden und mitfahren.

Du hast eine Frau und zwei kleine Jungs. Wie ist es für dich, die Familie zurückzulassen und loszufahren?

Jedes Mal gibt es diesen Abschiedsmoment. Wenn es drei Wochen oder vier Wochen sind, ist das schon emotional. Wenn man dann auf dem Meer ist, ist man ganz in dieser fremden und oft menschenfeindlichen Welt da draußen. Aber ich habe meine Familie hinter mir. Meine Frau ist in der Entwicklungshilfe tätig und hat eine Schule und ein Waisenhaus in Kenia mitaufgebaut. Wir sagen immer scherzhaft: Sie kümmert sich bei uns in der Familie um die Entwicklungshilfe und ich um die Katastrophenhilfe. Und wir sagen: Beides ist wichtig.

Man kann die Rettung von Menschen auf dem Mittelmeer nicht von Politik trennen. Was würdest du persönlich Angela Merkel gerne mal sagen?

Ich würde mich erstmal bedanken. Ich denke, sie hat einen Riesenjob gemacht für unser Land, und ich würde ihr Respekt zollen. Dann käme erst mal lange nichts mehr. Wenn sie noch Zeit hat, würde ich sie fragen, ob ich ihr von den Erlebnissen da draußen berichten kann. Wenn sie dann noch Muße hätte, würde ich fragen, ob wir noch zusammen beten und ob ich sie für die anstehenden Aufgaben segnen und für sie beten darf.

Wie kann man euch unterstützen? Was kann man tun, damit Menschen wie du weiterhin Menschen aus dem Mittelmeer retten können?

Natürlich kann man sich informieren, uns finanziell unterstützen, man kann überlegen, ob man selber mit hinausfährt oder erstmal auf ein Infotreffen fährt. Wir werden im Herbst das nächste haben. Aber ich denke, viel wichtiger ist, dass man sich selber fragt: „Wo will ich, dass mein Glaube praktisch wird, und wo will ich auch erleben, dass Gott mich gebraucht?“ Ich glaube, dass Gott wirklich will, dass wir uns als handelnde, aktive und verantwortungsvolle Christen erleben. Da würde ich jeden motivieren, sich zu reflektieren, zu hinterfragen und zu überlegen, ob wir schon im Glauben so unterwegs sind, wie Gott es sich gedacht hat.

Welchen einen Satz gibst du unseren Lesern mit?

Glaube spricht unseren Geist an, unseren Kopf, unser Herz – und auch unsere Hand und muss am Ende praktisch werden.

Das Interview führte Simon Diercks, Leiter Communication & Media

Das ungekürzte Interview im Podcast

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai – Juli 2020) erschienen.