Rückenschmerzen und neue Kultur

Rückenschmerzen und neue Kultur

In einer sich immer schneller verändernden Welt braucht auch eine Missionsorganisation Veränderung. Simon Diercks gewährt einen Einblick, was die Allianz-Mission in den vergangenen Jahren im Veränderungsprozess gelernt und begonnen hat.

Er hatte sich nicht angekündigt und war auf einmal da. Ein Schmerz, der sich langsam ausgebreitet hat. Der den Alltag beschwerlich machte und eines unmissverständlich deutlich machte: Es war Zeit für Veränderung.

Nach den ersten Wochen des Lockdowns infolge der Corona-Pandemie verbrachte ich einen Großteil meines Arbeitstages damit, anderen Menschen in Videokonferenzen zu begegnen. Also Stunde um Stunde – leicht vorgebeugt vor meinem Notebook – in die Webcam zu lächeln. Nur machten diese veränderten Lebens- und Arbeitsumstände eines deutlich: Ich hatte mir eine falsche Haltung angewöhnt. Eine Haltung, die mir bisher keine Probleme eingebracht hatte und erst unter diesen neuen Rahmenbedingungen zu schmerzhaften Rückenbeschwerden führte. Nicht die einzigen Schmerzen: Nach einem langen Tag ununterbrochen am Bildschirm schmerzten auch die Augen und es stellte sich ein Phänomen ein, das Forscher kurz zuvor als „Zoom fatique“ beschrieben haben: die emotionale Erschöpfung durch übermäßig viele Videokonferenzen, bei denen man ständig die Gesichter der anderen Teilnehmer auf ihre Emotionen abtastet. Verhaltensweisen und eine Arbeitskultur, die bisher gut funktioniert hatten, bereiten mir auf einmal Schmerzen. Zeit für Veränderung.

So einfach es war, mit einem anderen Stuhl, einer aufrechten Haltung und einer neuen Pausentaktung dieses Schmerzes Herr zu werden, so schwierig ist Veränderung in anderen Lebensbereichen: die eigene Lebenskultur in der Familie, der Gemeinde, in Job oder Unternehmen.

Auch in diesen Lebensbereichen kündigen sich Fehlhaltungen und eine ungesunde Kultur früher oder später durch Schmerzen an: bleibende Differenzen, schwindende Gemeinschaft oder abnehmende Leistung. Weil das, was man immer schon auf eine gewisse Art und Weise gemacht hat, unter den jetzigen Lebensbedingungen nicht mehr schmerzfrei funktioniert.

Nicht erst Corona hat unsere Welt so verändert, dass wir eine neue Lebens- und Arbeitskultur brauchen, sondern die großen Trends wie Globalisierung, Digitalisierung und die Konfrontation mit einer Welt, die von Flüchtigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägt ist. Das gilt für die engsten Beziehungen genauso wie für Gemeinden und auch uns als Allianz-Mission.

Diese Erkenntnis und der Schmerz dessen, was eben nicht mehr gut funktioniert, waren der Startpunkt für einen Prozess der Veränderung in der Allianz-Mission. Die Suche nach einer Kultur, Strategie und Struktur, mit der wir zukunftsfit mit Gott vorangehen können. Für meinen Rücken war die Veränderung eine Sache von ein paar Tagen, für uns als AM hat uns dieser Veränderungsprozess über die vergangenen Jahre begleitet.

Es geht nicht nur um ein bisschen Makeup-Auffrischung einer in die Jahre gekommenen Missionsorganisation

Ein wichtiger Startpunkt des Prozesses war der Generationswechsel in der Leitung der AM im Jahr 2016. Durch weitere personelle Veränderungen nahm der Change schnell an Dynamik und Geschwindigkeit zu.

Und es wurde deutlich: Es geht nicht nur um ein bisschen Makeup-Auffrischung einer in die Jahre gekommenen Missionsorganisation, sondern unter teils grundlegend veränderten und sich verändernden Rahmenbedingungen galt es, Mission und AM neu zu denken. Ende 2018 traf der Vorstand die Entscheidung, einen weiteren nächsten Schritt zu gehen, nämlich eine bewusste, durch externe Berater begleitete Phase der Organisationsentwicklung. Für einen solchen existenziellen Aufbruch, wie er uns vorschwebte, braucht es gute Wegbegleiter, die mit dem Beratungsunternehmen EDEN Training gefunden wurden.

Ein Team wurde geformt von zwölf Change Agents (deutsch: Agenten der Veränderung) – divers zusammengesetzt aus verschiedenen Kontinenten, Geschlechtern, Altersgruppen und Arbeitsbereichen innerhalb der Allianz-Mission. Dieses Team begann damit, zu mehrtägigen Workshops zusammenzukommen – unterstützt durch zahlreiche Impulse und Werkzeuge zu gesunder Leiterschaft und Organisationsformen bis zu Persönlichkeitstypologien und deren Berücksichtigung und Einbeziehung im Bauen erfolgreicher Teams.

Die Change Agents gingen ans Werk: Was hat unsere Organisation in der Vergangenheit geprägt, was waren Zeiten des Aufschwungs und weniger fruchtbare Teile unserer 131-jährigen Geschichte? Welche unausgesprochenen Einstellungen prägen unser Arbeiten weltweit und bei welchen brauchen wir den Mut, neue zu formulieren und zu leben? Dürfen wir Fehler machen, haben wir eine Arbeitskultur, die gesund ist oder krank macht? Erreichen wir unsere Ziele und sind es die richtigen? Wie und wohin führt uns Gott in diesem Prozess?

Frühzeitig begannen Vorstand, Bereichsleiter und Change Agents, die erarbeiteten Zwischenergebnisse in die Breite der weltweiten Mitarbeiter zu kommunizieren, die lokalen, regionalen und internationalen Teams in den beginnenden Change (deutsch: Veränderung) einzubeziehen. Ende 2019 wurde eine umfangreiche digitale Umfrage unter allen Mitarbeiterinnen und Mitabeitern weltweit wie auch den Kurzzeitlern durchgeführt. Deren Ergebnisse verdichteten die Change Agents zu Arbeitsfeldern unseres Veränderungsprozesses, wie „Geistgeleitet dienen“, „Missionar 2.0“ oder „Digitalsierung“. In Arbeitsgruppen wurden zu allen Feldern konkrete Maßnahmen und Schritte in die Zukunft durchdacht und angestoßen.

Und erste Vorboten und Erfolge des Changes wurden frühzeitig sichtbar gemacht und kommuniziert – Veränderung so erlebbar gemacht: durch die Durchführung und Schulung einer Persönlichkeitstypologie für alle Mitarbeiter weltweit oder den Start gemeinsamer Fasten- und Gebetstage – online verbunden.

Eine neue Kultur ist erlebbar und zieht Kreise – in und außerhalb der AM.

Neben den Workshops erarbeiteten Vorstand und Bereichsleiter Vision, Mission, Strategie und notwendige Strukturveränderungen für die AM – immer wieder im Abgleich und der Reflektion mit den Change Agents. Eine neue Leitungsarchitektur wurde ebenso durchdacht und nachjustiert, wie bisher unklare Prozesse in der globalen Zusammenarbeit transparent und klar definiert.

Höhe- und vorläufiger Zielpunkt des Veränderungsprozesses war die erste Weltkonferenz in der Geschichte der AM: die „Moving People Conference 2020“. Die Corona-Pandemie machte auch hier ein agiles Umdenken und Neugestalten nötig: Aus einer verteilten Konferenz wurde eine dreisprachige Online-Konferenz, bei der 160 Teilnehmer aus über 26 Ländern drei Tage intensiv miteinander in den Change eintauchten, ihre Fragen stellten, miteinander Erfolge feierten sowie Niederlagen betrauerten und sich auf den Gott ausrichteten, der bei all dem am Wirken ist. Ein bewegender Moment war die abschließende Gebetsgemeinschaft, in der unsere Verbundenheit in Christus und Gemeinschaft als weltweite AM-Community spürbar wurden.

Die Konferenz war nur der Startschuss. Nun sind viele kleine und große Teams dabei, die Vision „Menschen bewegen – Welt verändern“ in konkrete Veränderungen hinein zu buchstabieren und umzusetzen. Ein neues Leitungsteam nimmt seine Arbeit auf. Eine neue Kultur ist erlebbar und zieht Kreise – in und außerhalb der AM.

Wir sind mitten im Change: mitten zwischen dem Schmerz der notwendigen Veränderung, dem Enthusiasmus des Aufbruchs, der Freude über erste Erfolge und dem Nachjustieren bei dem, was noch nicht funktioniert oder auch mal schiefgeht. Mitten im Change sind wir tief dankbar: gegenüber unseren Unterstützern, Betern, Spendern und Partnergemeinden; unseren einheimischen Partnern in den Missionsländern; EDEN Training; unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die AM leben und sind, und vor allem dem Gott, der all das begonnen hat.

DANKE!

Simon Diercks ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (November 2020 – Januar 2021) erschienen.