Allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern – ein Nachruf auf Prof. Dr. Ursula Wiesemann

Allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern – ein Nachruf auf Prof. Dr. Ursula Wiesemann

Am Montag, den 15. August ist die Bibelübersetzerin Prof. Dr. Ursula Wiesemann im Alter von 90 Jahren verstorben. Ursula Wiesemann wurde am 29. Mai 1932 als viertes von 16 Kindern in die Pastorenfamilie von Heinrich und Käthe Wiesemann in Berlin geboren. Als Kind und Teenager erlebte sie den Zweiten Weltkrieg und anschließend als Jugendliche die bittere Armut der Nachkriegszeit in Ewersbach. Nach der Mittleren Reife ging sie als Au-Pair-Mädchen nach England und konnte dort – auch in einer Abendschule ihre Englischkenntnisse aufbessern. Danach besuchte sie das französischsprachige Bibelinstitut Emmaus in der Schweiz. Anschließend arbeitete sie wieder als Au-Pair-Mädchen, diesmal in den USA. Allein das war Anfang der Fünfzigerjahre schon außergewöhnlich. Auf die Bibelübersetzungsorganisation Wycliff aufmerksam geworden, absolvierte sie in dieser Organisation mehrere Linguistikkurse. Zum Ausbildungsprogramm gehörte ein dreimonatiger Aufenthalt in einem Dschungelcamp in Mexiko, um auf sehr primitive Art und Weise leben zu lernen, weil Spracherforschungsarbeit in der Regel bedeutet, zu abgelegenen Völkern und Stämmen zu gehen.

Ende 1957 reiste sie als Missionarin des Bundes Freier evangelischer Gemeinden nach Südbrasilien. Ihre späteren Einsätze in Brasilien und Afrika erfolgten im Auftrag der Allianz-Mission. In Brasilien machte Ursel es sich zur Aufgabe, die Sprache der Kaingáng-Indianer zu erlernen, zu erforschen und zu verschriften.

Zu ihrem Werdegang ist weiter zu sagen, dass sie nach ihrem ersten Einsatz in Brasilien an der Universität Köln Sprachwissenschaft studiert und promoviert hat. Danach ging es zurück nach Brasilien, um zunächst das NT in die Kaingáng-Sprache zu übersetzen und die Leitung der Lehrerausbildungsschulen sowohl für die Kaingáng-Indianer als auch für die Guarani-Indianer zu übernehmen.

Ab Mai 1978 kam für sie ein neuer Erdteil in den Fokus: Afrika. Dort lehrte sie etwas mehr als zehn Jahre als Professorin für Linguistik, vornehmlich an Universitäten in Kamerun, Benin und Togo.

Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem kurzen Abriss, dass Ursel 1962 Gründungsmitglied des Wyliff e. V. und des Seminars für Sprachmethodik in Deutschland war. Die Leitung für das Seminar für Sprachmethodik (heute Seminar für Sprache und Kultur) übernahm sie von 1994 – 2002 in Burbach-Holzhausen.

Danach ging es 2004 noch einmal kurz zurück nach Brasilien, um damit zu beginnen, die Dialekte der aus Deutschland ausgewanderten Hunrückern und Pommern zu verschriften, Lesefibeln zu erstellen und schließlich mit der Bibelübersetzung in diese Sprachen zu beginnen.  

Obwohl sie Mitte der 90ziger Jahre ihre Altersrente in Anspruch nehmen konnte, hat sie im Ruhestand noch fleißig weitergearbeitet. Alters- und krankheitsbedingt lebte sie ab 2015 bis zu ihrem Heimgang im Altenpflegeheim Kronberg in Ewersbach, wo sie am Morgen des 15. August friedlich eingeschlafen ist. Zu ihrer Biographie ist zu sagen, dass sie Autorin einiger Bücher und zahlreicher Veröffentlichungen in verschiedenen Sprachen ist.

Von einigen Stationen und Situationen ihres Lebens will ich das weitergeben, was sie zeugnishaft in ihrem Buch „Mein Leben für die Sprachforschung“ festgehalten hat.

Ich beginne mit ihrer Berufungsgeschichte. Ihre Berufung als Missionarin erhielt sie bereits mit 14 Jahren. Während der Zeit im Schweizer Bibelinstitut Emmaus hat sie Gott intensiv darum gebeten, ihr zu zeigen, wo er sie gebrauchen will. Eines Tages erhielt sie die Antwort: Sie schreibt: „Vor dem Frühstück hatten wir immer eine Andacht. Dabei wechselten wir Frauen uns mit den Männern ab, den der Betrachtung zugrundeliegenden Text Vers für Vers zu lesen. An einem Morgen war die Reihe an mir. Der Text war Offenbarung 14,6 u. 7: ‚Und ich sah einen anderen Engel, der ein ewiges Evangelium an die Bewohner der Erde und an alle Nationen und Stämme und Sprachen und Völker zu verkündigen hatte … und er sprach mit lauter Stimme: Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre!‘“ Ursel berichtet weiter: Ich las die Verse wieder und wieder. Offenbar war der sechste Vers für mich gedacht und ich sagte zu Gott: „Allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern – ja, dorthin muss die Nachricht getragen werden, schön und gut. Sag mir doch bitte, wohin ich gehen soll!“

Um diese Zeit kam gerade die neue Ausgabe vom „Gärtner“ an, der damaligen Zeitschrift der Freien evangelischen Gemeinden. Als ich das Blatt in einer Pause zur Hand nahm, fiel mein Blick auf eine kleine Notiz. Darin hieß es, dass viele Menschen aus aller Herren Länder nach Brasilien einwanderten. Damit sei eine große Gelegenheit gegeben, Menschen aus vielen verschiedenen Nationen das Evangelium zu verkündigen. Als ich einige Stunden später in der Gebetsstunde vor Gott stand, rückten plötzlich diese Notiz und mein sechster Vers aus der Morgenandacht zusammen. Mit einem Mal ging mir auf: Ich sollte nach Brasilien gehen und dort arbeiten! Wie, das wusste ich damals allerdings noch nicht, denn die Missionsgesellschaft, die mit den FeG arbeitet, war zu dieser Zeit dabei, eine missionarische Arbeit in Japan aufzubauen, an Brasilien hatte die Allianz-Mission noch kein Interesse.“

Ihre Berufsgeschichte geht weiter und findet einen Weg, den sie sich wohl nie erträumt hätte. Durch die in den USA kennengelernte Wycliff-Organisation wurde ihr schnell klar, ihre Aufgabe wird Bibelübersetzerin sein. Obwohl Wycliff keine Arbeit in Brasilien hatte, bewarb sie sich dennoch bei dieser Missionsgesellschaft, weil sie genau wusste, dass sie nach Brasilien gehen sollte. Sie vertraute darauf, Gott würde schon die geeigneten Wege finden. Und siehe da, während sie noch Kurse bei Wycliff in Oklahoma belegte, kam die unerwartete Nachricht, dass die brasilianische Regierung eine Einladung an die Wyliff-Bibelübersetzer ausgesprochen hatte, mit einer Übersetzungsarbeit von der Bibel in Brasilien zu starten. Das kommentiert Ursel in ihrem Buch so: „Jetzt plötzlich stand das Land, in das mich Gott gerufen hatte, für unsere Arbeit offen. Gott wusste schon, was er wann und wo tun würde.“ So war Gottes lebendiges Wort als Licht der Orientierung in ihr Leben gefallen.

Ursel hat in nicht wenigen Situationen erleiden müssen, dass es im Dienst für Gott vielfach durch Tiefen und Schwierigkeiten geht. Davon ist in ihrem Buch ebenfalls viel zu lesen. Eine Aussage hat sich bei mir eingeprägt. Ursel schreibt: „Ohne Schwierigkeiten ist Mission undenkbar“. Und daraus hat sie gelernt, morgens zu beten: „Herr, heute gilt nicht meine Sicht, heute gilt deine Verheißung!“ Das finde ich ganz stark.

Ein weiteres Highlight in ihrem Leben ist sicherlich der Abschluss ihrer Arbeit unter den Kaingáng-Indianern, insbesondere die Fertigstellung der Übersetzung des NT. Sie berichtet: „Nun folgte der Höhepunkt und Abschluss meiner Arbeit unter den Kaingáng: Am 6. November 1977 wurde am Rio das Cobras das Neue Testament in Kaingáng in einem großen Festgottesdienst gesegnet und den Kaingáng übergeben. Alle übersetzten Texte waren von einem Übersetzungsberater geprüft und zum Druck freigegeben worden. Die Mitarbeiter in Brasilia (Hauptstadt Brasiliens) hatten die verschiedenen Seiten in der richtigen Reihenfolge zusammengelegt und die Bibel konnte gebunden werden – fast zwanzig Jahre nachdem wir die Arbeit dort begonnen hatten. Zusammen mit Martin Hery von der Marburger Mission, der Ka’egso genannt wurde, sollte das NT noch einmal revidiert werden, weil die erste Ausgabe vergriffen war. Dies wurde zum Abschluss gebracht und zum Bibelfest versammelten sich etwa 1300 Kaingáng-Indianer.“

Auch an der Übersetzung des AT in die Kaingáng-Sprache hat sie fleißig mitgearbeitet, wie gesagt, auch in ihrem wohlverdienten Ruhestand. So durfte sie 2012 in Brasilien in einem Festakt die Veröffentlichung durch die brasilianische Bibelgesellschaft miterleben. Und vor wenigen Tagen, und das genau an ihrem Todestag, wurde im Land ihrer Berufung das letzte Buch der Offenbarung revidiert.

Als Fazit fasst sie am Ende ihres Buches Gottes gutes, bewahrendes, fürsorgliches, ja gnädiges Handeln und ihr Wirken unter den Indianern so zusammen: „Ich habe gesehen, wie das Evangelium unter den Kaingáng gearbeitet hat, dass durch Gottes Einwirken in unserem Leben etwas Neues passiert. Die Wunder sind vor meinen Augen passiert: Die Indianer haben angefangen, aufrecht zu stehen. Die haben jetzt Selbstachtung. Diese ganze Lebensfreude haben sie bekommen, weil sie jetzt die Bibel lesen können und weil sie Lehrer haben, weil wir ihre Sprache verschriftet und ihnen das Evangelium gebracht haben. Das hat den Umschwung gebracht. Und sie selbst sind die Ersten, die das erzählen würden, wenn man sie fragen würde. Vor fünfzig Jahren gab es sechs- oder siebentausend Kaingáng, jetzt sind es mehr als fünfundzwanzigtausend und es werden immer mehr.“ Soviel aus ihrer Biographie.

Ich bin sehr froh und dankbar, Ursel oder Ulla, wie wir sie liebevoll genannt haben, persönlich kennenlernen zu können und sie für mich zu einem großen Vorbild im Vertrauen auf Gott geworden ist. Die vielen Begegnungen mit ihr in der Allianz-Mission, in unserer Freien evangelischen Gemeinde und darüber hinaus waren stets geprägt von gegenseitigem Vertrauen und hoher Wertschätzung. Bei ihrer hohen fachlichen Kompetenz war das Miteinander unterwegs sein eine liebevolle, angenehme, freundschaftliche und herzliche Gemeinschaft.

Heinz Gimbel war bis 2016 Geschäftsführer der Allianz-Mission