Das Unplanbare mit Würde umarmen

Das Unplanbare mit Würde umarmen

Christiane und Dr. Alfred Meier haben Jahrzehnte ihres Lebens als Missionare in Mali investiert, um Menschen ein würdiges Leben und den Glauben an Jesus zu ermöglichen. Die Demenz-Erkrankung von Christiane lässt Alfred neu über Würde nachdenken.

Wenn ich in die Augen meiner Frau schaue, spiegelt sich darin trotz ihrer Demenzerkrankung etwas Nützliches, etwas Wertvolles, etwas Würdevolles. Ihre Sätze sind unvollendet und zerbrechen im Chaos der Degeneration. Ihr Beitrag scheint nutzlos und wertlos und keines Lohns wert zu sein. Doch die Falten der Hände und der Finger, der ihren Ehering trägt, spiegeln die gemeinsame Vergangenheit, die Wirkung ihres verantwortlichen Handelns und den Wert ihres Lebens. Ihr würdevoller Nutzen, liegt in ihrer Ausstrahlung. Die Erinnerung an ihr Leben birgt einen Reichtum, der nicht quantifizierbar und mehr wert ist als alles Silber und Gold der Welt. In ihren Augen entdecke ich die Gesichter unserer Kinder und den starken Zusammenschluss der gemeinsam gegründeten Familie. Ich sehe darin die Werte ihrer Treue und Hingabe.

Manchmal wirken diese Augen gläsern und starr, weil die Medikamente sie ermüden lassen. Die Menschen, denen sie ein Vorbild war, defilieren vor meinem geistigen Auge. Ihr selten gewordenes, spontanes Lachen spiegelt die Lebensfreude, die unsere Räume durchflutet hat. Das ist sowas von wertvoll, nützlich und aller Ehren wert – mitten im Magnetfeld der Einschränkung und dem Auf und Ab der Gefühle.

Sie muss und kann nichts mehr leisten. Sie hat keinen Rang mehr im Gefüge menschlicher Strukturen. Sie ist zum Wesentlichen zurückgekehrt: Zum freien Menschsein, das sich der Materialisierung, dem Kampf um das „besondere Selbst“ und dem Druck weltimmanenter Begrenztheit entzieht. Um ihren Nutzen, ihren Wert und ihre Würde muss sie nicht mehr kämpfen, sich rechtfertigen oder sie verteidigen. Wir lernen das Unplanbare zu umarmen, wie einen fremden Gast.

Die Ökonomisierung des Menschen 

Wie kompetent bin ich? Wie viel bleibt übrig, wenn ich gehe? Ist der Mensch in seinem Wert messbar, ein dimensionales Humankapital? Die Opferfamilien der Anschläge von 09/11 in New York wurden mit unterschiedlich hohen Geldbeträgen entschädigt, je nachdem wieviel sie vorher verdient hatten. Die Ökonomisierung des Menschen hat eine lange Tradition. Dabei geht es nicht nur um den finanziellen Nutzen.

Hier kommt die Demenz wieder mit ins Boot. Wir sprechen vom ErinnerungsVERMÖGEN. Wer sich an viele Dinge in seinem Leben erinnern kann, der hat ein größeres Vermögen, eine gefüllte Schatztruhe an Gedanken und damit einen höheren Stellenwert als derjenige, dem dieses Vermögen durch Krankheit abhandengekommen ist. Worin besteht der Nutzen von Menschen, die sich nicht mehr aktiv einbringen können und die ihre Erinnerungen nicht mehr in Worte fassen, also materialisieren und anderen weitergeben können, weil die Degeneration der kognitiven Fähigkeiten dies nicht mehr erlaubt? Haben diese Menschen ihren Wert verloren? Ist ihre Würde defizitär und beschädigt?

Die Individualisierung des Menschen 

Moderne und Postmoderne legen auf die Autonomie und Individualität des Menschen höchsten Wert. Die eigene Meinung ist wichtig. Im Pflegemanagement von kranken Menschen spielt das Konzept der Selbstbestimmung eine große Rolle. Kranke Menschen sollen soweit es geht, selbstbestimmt leben. In Wirklichkeit aber wird so das Menschsein auf das Selbst und die Individualität reduziert. Wer hindert das auto (Selbst, das Eigene) an der Kollision, wenn das Bewusstsein für den nomos (Gesetz, Standhaftigkeit) verloren gegangen ist? Was geschieht, wenn dieses Selbst im Nebel des Vergessens verschwindet und von pflegenden Angehörigen auf der Grundlage von Vollmachten am Leben erhalten werden muss? Es gibt die Grenzerfahrungen des Lebens und des Leidens, wo das soziale Netz kollektiver Solidarität zum tragenden Element wird und der Andere mein Selbst auffängt.

Die Immanenz menschlicher Existenz

Wir würdigen Personen wegen ihres hohen Rangs und wegen der Verdienste, die sie sich im Engagement für die Gesellschaft erworben haben. Auch der Begriff der Menschenwürde assoziiert eine Hierarchie, wo der besondere Wert des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen herausgestellt wird.
Wenn Würde lediglich im Völkerrecht oder in richterlichen Verlautbarungen verankert ist, dann bleibt sie im Immanenten gefangen. Würde wird von Menschen definiert und durch Menschenrechte flankiert.

J. Hellegouarc hat bei der Lektüre der Schriften von Cicero (röm. Philosoph der Stoa) herausgefunden, dass Würde dem lateinischen Wort dignitas entspricht. Dignitas kann am ehesten mit „Angemessenheit, Eigenart, Charakter“ wiedergegeben werden. Damit nähern wir uns der Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes. Der Mensch erhält seine Dignität durch das, was Gott in ihm als Gegenüber sieht (absolute Würde) und nicht durch das, was er sich an Rang, Ehre und Verdiensten erwirbt (relativer Wert).

Demenz und Leid verändern die Persönlichkeit des Kranken, nicht aber seine Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Sie hat ihren Grund außerhalb unserer Logik und Erfahrungen. Selbst wenn ein Mensch würdelos behandelt oder geschädigt wird, würde er damit seine Würde nicht los. Noch bevor sich Menschen als Kulturschaffende nützlich machen und Wertschätzung ernten können, noch bevor sie sich ihrer Würde bewusstwerden, sind sie das, was sie sind – Ebenbilder Gottes, ausgezeichnet mit einer aus der Kreativität Gottes herauskristallisierten Ehre und Wertigkeit (Psalm 8). Die Weltverantwortung ist eine konkrete Folge, eine Auswirkung dieser Ebenbildlichkeit.

Die Dignität des Menschen ist bei Gott hinterlegt und ist nicht von sichtbaren Errungenschaften und Wertschätzungen abhängig – so wie das Gold, das seinen Wert behält, auch wenn das entsprechende Zertifikat verschlissen ist. Gott erhält und verteidigt meine Ehre und Würde, auch wenn ich längst nicht mehr die Fische im Meer zählen, das Unkraut im Gemüsebeet jäten und die Kinder in Mali unterrichten kann. Gottes Geist ist im Leid, in der Prekarität und im durch Krankheiten ausgelösten Defizit immer noch gegenwärtig. In der Gebrochenheit erstrahlt der Glanz menschlicher Würde. Der Blick auf das Kreuz Jesu Christi zeigt, dass gerade im Leid, in der Erniedrigung und der Herabwürdigung die heilvolle Würde aufleuchtet, die inspiriert und zum Aufschauen einlädt.

Christiane und Dr. Alfred Meier sind Missionare für Mali

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (August – Oktober 2023) erschienen.