Unsichtbare Heldinnen

Unsichtbare Heldinnen

Dr. Gina Zurlo ist Co-Direktorin des Zentrums für das Studium des globalen Christentums am Gordon-Conwell Theological Seminary. Sie hat in letzter Zeit viel über die Rolle von Frauen im globalen Christentum geforscht. Ein Interview mit mehr als Statistik.

Dr. Zurlo, warum ist dieser Schwerpunkt heute so wichtig?

Ich denke, meine Beweggründe für das Projekt „Frauen im Weltchristentum” waren beruflicher wie persönlicher Natur. Aus beruflicher Sicht hören wir nun schon seit Generationen in akademischen Untersuchungen und Studien, dass Frauen die Mehrheit der Kirchenmitglieder auf der ganzen Welt ausmachen, aber es gab nie harte Daten, um diese Aussagen zu belegen. Auf der anderen Seite bin ich eine Frau des Weltchristentums und besuche viele globale christliche Konferenzen und immer wieder war ich eine von nur einer Handvoll Frauen im Raum. Ich wollte herausfinden, ob die Aussagen stimmen.

In einem Vortrag haben Sie gesagt, dass es keine Verlagerung des Christentums in den globalen Süden geben würde ohne Frauen. Was machen Frauen anders?

All die demografischen, historischen und theologischen Forschungen über die Verlagerung des Christentums in den globalen Süden haben dazu beigetragen, unser Verständnis davon zu erhellen, wie das weltweite Christentum heute aussieht. Es ist ein mehrheitlich nicht-westlicher Glaube mit vielen einheimischen Ausdrucksformen. Aber was man selten hört, ist die Geschlechterdynamik. Es scheint, als ob die Verlagerung in den globalen Süden eine geschlechtslose Sache ist.

Wenn Sie daran denken, wer in den christlichen Kirchen im Laufe der Geschichte und heute am aktivsten war, dann sind es die Frauen. Wo auf der Welt ich auch hingehe und Menschen frage: „Gibt es in Ihrer Gemeinde mehr Männer oder Frauen?“ Dann antworten sie: „Definitiv mehr Frauen.“ Aber für viele Frauen ist es selbstverständlich, dass sie den Gottesdienstraum vorbereiten, sich um die Kinder kümmern oder den Kalender führen. Das bezeichne ich als Beteiligungslücke: Männer und Frauen sind beide Mitglieder, aber die Frauen übertreffen die Männer bei der Beteiligung bei weitem. Aber weil sie nicht an den Entscheidungstischen sitzen und nicht vorne stehen, werden ihre Stimmen nicht gehört.

Sie zitieren aus einem UN-Bericht aus dem Jahr 2019: „Nirgendwo auf der Welt haben die Frauen eine vollständige Gleichstellung erreicht. Wenn der derzeitige Fortschritt anhält, wird es noch 202 Jahre dauern.“ Warum?

Als ich diese Statistik für 2019 gesehen habe, ist mir buchstäblich die Kinnlade heruntergefallen, weil man denkt, dass die Welt Fortschritte macht. Frauen erlangen mehr Bildung. Sie haben mehr Möglichkeiten, mehr Arbeitsplätze. Sie sterben weniger bei Geburten. Aber dann stellt das weltweit größte Gremium, das die Entwicklung der Gleichstellung der Geschlechter verfolgt, fest, dass die Fortschritte beim Schließen der Kluft zwischen Männern und Frauen langsamer werden. Das liegt daran, dass die härteren Indikatoren für die Gleichstellung nicht so gut erreicht werden: Frauen halten nicht mit den Männern Schritt, wenn es um höhere Bildungsabschlüsse wie Doktortitel und dergleichen geht. Sie sind nicht in den höchsten Rängen des Parlaments, der Regierung, der Politik, der Wirtschaft vertreten. Und das können wir auch auf die Kirche übertragen. Frauen sitzen in den Kirchenbänken, aber sie sitzen nicht in den höchsten Entscheidungsgremien.

Ich denke, es gibt drei Haupthindernisse für Frauen: Das erste ist die Kultur. Das ist ein Minenfeld. Wenn eine Frau sich berufen fühlt, etwas zu tun, aber die Kultur sie daran hindern, dann ist das ein Problem.

Das zweite ist die Tradition. Das Christentum hat eine lange Tradition, Männer und Frauen in unterschiedlichen Rollen zu halten. Viele Kirchen stützen sich auf die Tradition und sagen: „Frauen haben nie beklagt, dass sie dieses oder jenes nicht machen können. Warum sollen wir uns ändern?“ Ich glaube, viele Kirchen ändern sich nur sehr langsam.

Drittens gibt es in der Heiligen Schrift eine Vielzahl von Interpretationen, die Männern und Frauen unterschiedliche Rollen zuweisen. Die Bibel kann auf viele Arten interpretiert werden, damit sie zu der jeweiligen theologischen Tradition passt, die dazu benutzt wurde, Frauen von höheren Führungsebenen und Entscheidungsprozessen fernzuhalten.

Was fehlt uns?

Ich denke, ein Teil des Problems sind die Tische, an denen Entscheidungen getroffen werden. Wer sitzt an diesen Tischen? Wenn Sie einen Vorstand mit sechs Personen haben, ist es nicht schwer, ihn mit drei Männern und drei Frauen zu besetzen. Wie können Sie die Belange der Frauen ernst nehmen, wenn Sie keine Frauenstimmen am Entscheidungstisch haben? Ich glaube nicht, dass eine Gruppe von Männern die Einzigartigkeit der Erfahrungen von Frauen in der Welt und der Kirche versteht.

Was in diesen Entscheidungsgremien geschieht, wirkt sich auf die gesamte Organisation aus, sowohl lokal als auch global. Wenn sie als Missionsorganisation im Westen Schwierigkeiten haben, auf die weiblichen Stimmen zu hören, wie soll dann irgendjemand in Ihrer Organisation ein Modell haben, um dasselbe zu tun?

Wo sehen Sie weltweit positive Beispiele?

Ich sehe immer häufiger, dass Frauen ihre eigenen Tische erstellen, wenn sie von den offiziellen ausgeschlossen sind. Warum waren also in der Vergangenheit mehrheitlich Frauen in der Mission tätig? Dana Robert schätzt, dass die amerikanische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert zu zwei Dritteln aus Frauen bestand. Warum? Weil sie in ihren Heimatgemeinden von pastoralen Führungsaufgaben ausgeschlossen waren, aber in Übersee durften sie all die Aufgaben eines Pastors übernehmen, die ihnen nicht erlaubt waren – was sowohl sexistisch als auch rassistisch ist. Also haben sie ihre eigenen Tische gemacht. Sie schickten Pioniermissionare und Bibelübersetzer aus.

Heute sind in den meisten globalen friedensstiftenden Organisationen und Gremien nur sehr wenige Frauen an den Entscheidungstischen, obwohl in Konfliktzeiten Frauen und Kinder am stärksten von der Militarisierung betroffen sind. Also gründen sie Graswurzelorganisationen. Sie arbeiten in ihren lokalen Gemeinschaften und Netzwerken.

Wir brauchen westliche Christen, die die Theologie aus dem Kreis der pazifischen Insulanerinnen, Asiatinnen, asiatischen amerikanerinnen lesen. Und ich glaube, in der theologischen Ausbildung im Westen ist noch nicht viel Platz für diese Stimmen.

Denken die jungen Generationen anders, was die Rolle von Frauen im Christentum angeht?

Wir sehen einen stärkeren Drang zur Gleichberechtigung. Aber ich sehe auch eine generationenübergreifende Frustration, denn jede Generation von Frauen hat das Gefühl, dass sie immer wieder die gleichen Kämpfe austragen muss. Ich tue mein Bestes, damit meine Töchter das nicht tun müssen. Aber ich habe das ungute Gefühl, dass es aufgrund der Gletscher-artigen Geschwindigkeit des Wandels mehr als zwei oder drei Generationen dauern könnte, bis wir die Vision erreichen, die ich mir erhoffe.

Sie lieben Zahlen und harte Fakten. Gleichzeitig geht es Ihnen auch darum, das menschliche Gesicht der Statistik zu zeigen. Eine innere Spannung?

Ich bin mir sehr bewusst, wie trocken Statistiken sein können. Aber es sind niemals nur Zahlen. Wir sprechen über echte Menschen, echte Leben, echte Zusammenhänge.

Was ist die World Christian Database?

Die World Christian Database ist ein Online-Tool, mit dem Benutzer jedes Land, jeden Kontinent und jede Konfession nachschlagen und Statistiken über vergangene, gegenwärtige und zukünftige Trends abrufen können. In der World Christian Database gibt es drei wichtige Datenquellen: staatliche Volkszählungen; soziale, wissenschaftliche Erhebungen und die Daten der Religionsgemeinschaften selbst.

Die BBC hat Sie zu einer der 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen des Jahres 2019 ernannt für Ihre Arbeit zur Quantifizierung der Christenheit. Welche Frauen würden Sie gerne auf dieser Liste sehen?

Als ich mein Buch über Frauen im Weltchristentum geschrieben habe, habe ich es all den ungenannten Frauen gewidmet, die übersehen werden, unterbezahlt sind, zu wenig Anerkennung finden und dennoch unermüdlich für ihre christlichen Gemeinschaften, ihre Familien, ihre Gesellschaften arbeiten, um ihnen eine Zukunft zu sichern. Es gibt so viele Frauen in der Kirchengeschichte, deren Namen wir nie erfahren werden. Für mich sind das die 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen der Welt.

Welchen einen Satz geben Sie unseren Leserinnen und Lesern mit?

Der Kontext ist wichtig.

Das Interview führte Simon Diercks, Leiter Communication & Media

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (August – Oktober 2023) erschienen.