Kein Konzept, sondern eine Person

Kein Konzept, sondern eine Person

Sebastian Wickel ist Teil des Leitungsteams der Jüngerschaftsinitiative „72Jüngerschaft” und Kreisjugendpastor des Bundes Freier Evangelischer Gemeinden (FeG) im Dill-Westerwald-Kreis. Timotheus Liebscher ist Jugendpastor in der FeG Dresden. Simon Diercks im Gespräch mit zwei leidenschaftlichen Jüngermachern.

Was heißt Jüngerschaft für euch uns, was ist gerade für eure persönliche Jüngerschaft wichtig?

S: Ich bin irgendwann über Apostelgeschichte 11 gestolpert: „Zu der Zeit begann man, die Jünger und Jüngerinnen Christen zu nennen.“ Und da habe ich gemerkt: Jüngersein ist die Wesensbeschreibung eines Christen. Als Christ bin ich Jünger. Ein Jünger ist ein Mensch, der von Jesus lernt, wie Jesus zu leben.

In meiner persönlichen Jüngerschaft geht es gerade um die Zeit. Darum, Zeit als ein Gut, aber nicht als das treibende Gut wahrzunehmen. In der Bibelübersetzung „The Message“ ist eine Passage in Matthäus 11 übersetzt mit „Learn the Rhythm of Grace“ (deutsch: Lerne den Rhythmus der Gnade). Ich habe letztens mit unseren zwei Kids einen Tag verbracht und einfach mal geguckt, was ich von ihnen lernen kann. Und ich hatte das Gefühl, die beherrschen den Rhythmus der Gnade – wo ich schon im Nächsten bin, sind sie noch voll im Moment. Von daher bin ich gerade auf einer Forschungsreise, wie dieser Rhythmus der Gnade das Leben ent-eiligt.

T: Für mich ist Jüngerschaft dieser Moment, wo ich in jeder Situation im Alltag damit rechne, dass Jesus da ist, dass er wirkt und dass er mir etwas sagen will. Paulus würde es so beschreiben, dass die Augen des Herzens offen sind für die Reich-Gottes-Perspektive – und darin zu leben und zu handeln. Der Auftrag Jesu: „Macht Jünger“ ist etwas Aktives, wo ich gestalte und etwas reinstecke, damit was rauskommt.

Ich persönlich entdecke immer wieder neu Matthäus 11,28. Da sagt Jesus: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Denn ich bin von Herzen sanftmütig und demütig und ich will euch Ruhe geben.“ Daran sehe ich: Ja, Jesus beteiligt uns. Aber wenn das in einer ungesunden Art und Weise ist, wird es zu einem Druck, den er nehmen will. Und ich will von Herzen sanftmütig und demütig sein, also leicht lenkbar zu sein von Jesus und in jedem Moment damit zu rechnen, dass er größer ist als alles andere. Das fordert mich raus, darin bewegt zu sein und dieses „Kommt her zu mir“ anzunehmen, diese Einladung, das in jedem Moment zu machen. Kommt her zu mir.

Der US-amerikanische Pastor John Mark Comer befasst sich in seinem Buch „Practicing the Way“ ebenfalls mit dem Thema Jüngerschaft. Er beschreibt darin eine Krise der Jüngerschaft in den christlichen Kirchen. Könnt ihr das für unseren Kontext in Deutschland bestätigen und, wenn ja, wie äußert sich diese Krise?

T: Ich glaube, dass wir Jüngerschaft oft als Programm verstehen und bei Jüngerschaftsinitiativen schnell fragen: „Kann ich mal dein Konzept haben?“ Es gibt eine wahnsinnige Sehnsucht nach Material, an dem ich mich orientieren kann und mit dem Jüngerschaft hoffentlich gelingt. Und das ist für mich der Knackpunkt geworden: So hat Jesus nicht gedacht. Er lässt Menschen kein Programm durchlaufen und sagt dann: „Gut, jetzt seid ihr fertig!“ Und da haben Menschen, glaube ich, eine Sehnsucht, wieder neu in einer lebendigen Weise mit Jesus zu leben. Nicht als Checkliste, nicht als Religion oder To-Do, sondern in ihrer individuellen Lebenssituation mit der Kraft des Heiligen Geistes.

S: Ich nehme wahr, dass der Begriff der Jüngerschaft mittlerweile sehr viel bis inflationär gebraucht und doch sehr verschieden gefüllt wird. Ich finde es spannend, dass ein Begriff, der die Wesensbeschreibung dessen angibt, was wir sind, sehr verschiedene Füllungen hat, die nicht immer kongruent zueinander sind. Parallel dazu ist da eine große Sehnsucht nach dem Gott in Aktion, der etwas tut – und dann manchmal eine Hilflosigkeit: Gott sagt: „Wer mich von ganzem Herzen sucht, von dem will ich mich finden lassen.“ Doch wie suche ich? Da fehlt es uns an praktischen Werkzeugen.

Der Heilige Geist kommuniziert, der Stellvertreter von Jesus ist aktiv, sein Reich ist da. Und wir hoffen auf Gottesdienste, Lobpreiszeiten und guten Input. Das ist alles nicht verkehrt, aber das ist nicht der Kern dessen, was Jesus alles getan hat – und da sind wir vom Gemeindeprofil manchmal ein bisschen schmal aufgestellt.

Was braucht es, damit Jüngerschaft lebensverändernd prägt?

T: Vor ein paar Jahren hätte ich wahrscheinlich noch gesagt: Angebote, Inhalt, Motivation. Inzwischen merke ich, dass es eben nicht die Angebote sind, sondern der Lebensstil. Dass Menschen in einem echten Miteinander unterwegs sind, Beziehung leben und einander Einblick in ihr Herz geben. Besonders gemerkt habe ich das in der Zeit der Lockdowns. Dort mussten wir kreativ werden, um den Auftrag Jesu in dieser Zeit leben zu können und da habe ich gerade im Jugendbereich diese unglaubliche Sehnsucht gespürt. Es ging nicht mehr darum, welches Programm gemacht werden kann, damit ein paar Jugendliche kommen und ihre Freunde mitbringen, sondern um die eigentliche Sehnsucht: nach einer lebendigen Begegnung mit diesem Jesus.

Wo man miteinander lebt, in einem Fokus auf Jesus – das ist das, was Menschen anzieht und wovon sie Teil sein wollen. Da ist Kultur für mich ein ganz wichtiger Begriff geworden – das Unsichtbare, das beschreibt, wie wir miteinander umgehen. Da habe ich als Leiter den Auftrag, ein Kulturarchitekt zu sein, also eine Kultur zu beschreiben, zu definieren und zu kultivieren. Bei diesen Themen vergisst man schnell diese lebendige Beziehung mit dem lebendigen Jesus und verliert sich wieder in Konzepten und Strukturen, aber am Ende ist und bleibt es das Rechnen mit dem Unsichtbaren oder die Frage: Lebe ich so, als sehe ich diesen unsichtbaren Jesus?

S: Ich finde auch das Mindset entscheidend. Das erste öffentliche Wort Jesu war: „Denkt um, denn das Reich Gottes ist nah“. Punkt. Also nicht nach dem Motto: „Es ist nah, wenn ihr das und das gemacht habt“. Es ist nah, Punkt. Jesus erzählt von einem Gott, der in Aktion ist. Den wir nicht wach machen oder herbeiholen müssten – der ist da, nah und in Aktion. Die Frage ist: Wie nehme ich das wahr? Und wie helfe ich anderen, diesen Gott wahrzunehmen und zu merken, dass er viel häufiger spricht als sie ursprünglich dachten?

Und das zweite ist: Jesus hat die Jünger immer beieinander gestellt mit anderen Jüngern. „Der Christus im Anderen ist stärker als der Christus in uns“, das ist so ein schöner Bonhoeffer-Gedanke. Manchmal brauchst du einfach einen an deiner Seite, der dir den entscheidenden Funken weitergibt. Diese persönliche Kommunikation in der Runde mit anderen, die ist dynamisch. Und Jesus verspricht, dass er da ist, wo zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind – das ist die kleinstmögliche Form von Gemeinschaft und er gesellt sich schon voll dazu.

Und dann würde ich sagen: Erwartungshaltung ist, glaube ich, auch eine Form Gott in Aktion zu erleben. Ich erwarte, dass er da ist. Ich lasse mich darauf ein.

T: Was ich noch ergänzen würde, sind diese mutigen Zerbruch- oder Aufgebe-Momente. Zu fragen: Wo stimmt etwas nicht überein – von dem, wie ich es in der Bibel lese und dem, wie ich es erlebe? Sich das einzugestehen und zu sagen: „Jesus, ich zerbreche daran!“, und das wieder einzuüben im Miteinander. Wenn jemand erzählt, dass es einem schlecht geht, dann beten wir häufig sofort, dass es besser wird. Aber Raum zu haben für dieses echte Sein, echte Zerbruch-Momente und das zu teilen und miteinander auf Gott zu sehen – das sind für mich Schlüsselmomente in Jüngerschaftsprozessen.

Wir leben in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen in keiner Verbindung mehr zu irgendeiner Kirche steht und auf einem zunehmend säkularisierten Kontinent. Wie können Jüngerschaftsinitiativen, wie kann gelebte Jüngerschaft hier einen Unterschied machen? Wofür werden die folgenden Generationen sich an uns erinnern?

S: Wir haben in einem kleinen Dorf in unserer Gegend in einer Eisdiele gestartet, weil wir gesagt haben: „Ach komm, wir fangen einfach mal an. Wir wünschen uns eine von Jesus bewegte Bewegung durch ganz Deutschland.“ Und dieses Jahr sind wir schon in Belgien. Von daher, glaube ich, fragen können wir bei Gott alles.

Ich sehe die Chance, aus dem Klein-Klein des Gemeindealltags rauszukommen und in das Eigentliche der Jesusbewegung einzutauchen. Viele Gemeinden leben in einem System, wo immer Mitarbeitermangel ist und immer irgendetwas laufen soll. Das generiert selten die Dynamik, die alle erhoffen. Das Ursprüngliche der Jesusbewegung ist: Wir hören auf Jesus, wir sind miteinander unterwegs und wir erleben ihn in Aktion. Und ich glaube, durch so eine Vereinfachung des Gemeindelebens kommt man in eine feine Dynamik rein. Durch kleine Initiativen, wo die ersten Menschen anfangen zu suchen, kann immer was werden.

T: Jesus ist immer der Handelnde. Deshalb ist die Frage in all dem, wo er uns beteiligt: „Was will er durch dich an deinem Ort in deiner Situation tun?“ Wenn Gemeinden an den Personenzahlen zerbrechen, ist ja trotzdem der Auftrag von Jesus nicht weg, dass dort Jünger gemacht werden sollen, die Jünger machen. Dort bräuchten wir vielleicht manchmal den Mut zu sagen: „Jesus, was willst du denn – dass wir diese Art und Weise irgendwie am Leben halten? Oder was machen wir stattdessen?“

Ich wünsche mir, dass die kommenden Generationen uns das als ermutigendes Zeugnis ausstellen wird: dass wir gelernt haben, in der Situation mit dem, was vor unseren Füßen liegt, damit rechnen, dass Jesus aus fünf Broten und zwei Fischen alles machen kann. Dass es eben nicht darum geht, dass diese Veranstaltung gut besucht ist, sondern dass wirklich lebendige Nachfolger da sind – Menschen, die in einer Perspektive leben, in der es um mehr geht als das, was wir mit unseren Augen sehen.

Welchen einen Satz wollt ihr unseren Leserinnen und Lesern weitergeben?

T: Es ist keine Methode und Konzept, sondern es ist eine lebendige Person, Jesus Christus, in einer Beziehung zu ihm.

S: Follow first, the rest will follow. (deutsch: Folge zuerst nach, alles andere wird folgen.)

Das Interview führte Simon Diercks, Leiter des Servicebereichs Communication and Media

Das Interview ist in unserem Magazin move (Mai – Juli 2024) erschienen.
Das ganze Interview gibt’s im Podcast

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