Nestwärme & Ersatzfamilie: Wie man Evangelium ganzheitlich teilen kann

Nestwärme & Ersatzfamilie: Wie man Evangelium ganzheitlich teilen kann

Willi Ferderer erlebt unter Ex-Muslimen in Senegal, Deutschland und anderen Ländern, wie wichtig Familie und Nestwärme ist. Eine Entdeckungsreise durch die Bibel und bis Guinea.

Migranten aus dem Nahen Osten und aus Afrika definieren ihre Identität nicht wie wir Europäer in persönlicher, individualistischer Weise über Arbeit, Ausbildung und Interessen. Sie definieren sich über das Zugehören zu einer Gemeinschaft. Kulturrelevant arbeitende Missionare berücksichtigen das. Dabei folgen sie dem neutestamentlichen Vorbild, denn auch in biblischer Zeit war die Kultur familien- und gruppenorientiert geprägt.

Wie Muslime in Guinea Christen werden

Fara Daniel Tolno, ein afrikanischer Christ aus Guinea-Conakry, beschreibt in seiner Doktorarbeit die kulturelle Verwurzelung von Religion und Glaubensüberzeugungen in dem stark islamisierten Stamm der Fula-Djallon1. Das Selbstverständnis der „Fula2“ oder „Fulani“ ist tief in der islamischen Gemeinschaft – der „Umma3“ – verankert. Sie haben eine ausgeprägte Volksidentität4 und leben in starker Familienbindung, wo Entscheidungen nicht von Einzelnen, sondern in Familien getroffen werden. Fula leben nicht nur in vielen Ländern Westafrikas, sondern etliche mittlerweile auch als Flüchtlinge in Deutschland.

Tolno beschreibt, wie sich der Islam während seiner Verbreitung unter den Fula in allen gesellschaftlichen Schichten etablierte, indem er subtil animistische Kulturelemente aufnahm. So enstand ein „Volksislam“5 und verwob sich mit der kulturellen Identität der Familien. Den Fula präsentierte sich der Islam anfangs friedlich und kulturell angepasst. Erst später, im 19. Jahrhundert, wurde der gewaltsame Glaubenskrieg – Djihad – propagiert und es kam zur Bildung des islamisch-theokratischen Staates „Fouta-Djallon“, der mehr als ein Jahrhundert bestand. Bis heute fühlen sich die in hierarchischen Großfamilien lebenden Fula dem Islam schicksalhaft verbunden. Sie erleben unter der Fahne des Islam einerseits kulturelle Geborgenheit und Hilfe, aber andererseits auch starke gegenseitige soziale Kontrolle. Diese Kontrolle kann so weit gehen, dass sich selbst in Deutschland lebende muslimische Migranten gegenseitig zurechtweisen, wenn etwa
einer von ihnen zum christlichen Gottesdienst gehen will. Während meiner eigenen zehnjährigen Tätigkeit unter den Fula im Senegal habe ich erlebt, dass es unter ihnen auf Grund dieses gesellschaftlichen Drucks nur wenige Christen und kleine Gemeinden gibt. Manche Gemeinden sind nach anfänglichem Aufblühen wieder eingegangen.

„Selbst wenn wir alle in die Hölle gehen sollten, müsstest du doch mit uns gehen, denn du gehörst zu uns“

Wenn sich einzelne aus diesem Stamm zu Jesus bekehren, werden sie zuerst ausgelacht und verachtet. Halten sie weiter am Glauben fest, dann werden sie als Verräter des eigenen Volkes angesehen und aus der Familie ausgeschlossen. Sie erleben Verfolgung, die bis zur Ermordung gehen kann. Einem Fula-Djallon-Christen im Senegal wurde gesagt: „Selbst wenn wir als Familie mit unserem islamischen Glauben nicht recht hätten, sondern du – und selbst wenn wir alle in die Hölle gehen sollten, müsstest du doch mit uns gehen, denn du gehörst schicksalhaft zu uns. Wir sind Fula und Muslime zugleich.“

Bekehrte Muslime in Deutschland

Neubekehrte Muslime in Deutschland sind entwurzelte Menschen. Durch die Abkehr vom Islam fehlt ihnen die alte Zugehörigkeit zur Familie und zur islamischen „Umma“ und sie verlieren einen wesentlichen Teil ihrer Identität. Wenn sie dann durch christliche Unterweisung hören, dass sie Teil von „Gottes internationalem Volk“ und von einer „weltweiten Glaubensgemeinschaft der Kinder Gottes“ sind, dann weckt das in ihnen starke Erwartungen. Sie erhoffen sich eine Ersatzfamilie unter Christen und in der Gemeinde. Diese meistens unausgesprochenen Erwartungen an eine geistlich-familiäre Gemeinschaft und das idealisierte Bild von „echten Christen“ überfordern viele Deutsche.

Wenn neubekehrte Muslime dann nicht die notwendige geistliche Zuwendung bekommen, werden sie entmutigt. Sie entwickeln kein gesundes geistliches Leben, bekommen manchmal sogar psychische Probleme, oder fallen vom Glauben ab. Sie werden materialistisch und einige kehren zum Islam zurück, was wiederum die deutschen Christen enttäuscht. Es gibt leider nicht wenige christliche Migranten-Gruppen, auch in Verbindung mit Freikirchen, die nach einem Aufbruch und großer Euphorie stark schrumpften oder sich ganz aufgelöst haben.

Es kann uns helfen, wenn wir von den afrikanischen Fula-Pastoren lernen. Sie bilden geistliche Hausgemeinschaften. In diesen Gruppen wird im Sinne ganzheitlicher Jüngerschaft das Leben miteinander geteilt. Für sie ist es an der Zeit, wieder neu christliche Wohngemeinschaften6, Einkehrzentren und Hausgemeinden zu gründen. Damit entstehen Orte, wo Ex-Muslime und Deutsche miteinander Leben und Glauben teilen. In Guinea-Conakry und Gambia gibt es bereits solche kleinen, aber starken Hausgemeinden7 als Lebens- und Arbeitsgemeinschaften. Sie sind ein wirksamer Weg der Evangeliums-Verbreitung unter Muslimen, die eine starke familiäre Bindung haben und nach der Bekehrung eine Ersatzfamilie brauchen.

Hausgemeinden in Zeiten von Corona

Ich wünsche mir, dass wir uns neu auf das biblische Konzept der Hausgemeinden besinnen. Besonders angesichts der in der Corona-Krise aufgebrochenen Fragen der Versammlungsbegrenzungen. Im Neuen Testament werden Hausgemeinden oft erwähnt8 und wir selbst werden in Epheser 2,19 als „Gottes Hausgenossen“, also einer Familie zugehörige bezeichnet. Das riesige Römische Reich wurde durch äußerlich unscheinbare Hausgemeinden trotz vieler Verfolgungen mit dem Evangelium erreicht. J. Goetzmann schreibt: „Die Bedeutung der ‚Häuser‘ – also Familien und Lebensgemeinschaften – für die Ausbreitung des Evangeliums in der Frühen Kirche kann kaum überschätzt werden.“9

Die Einwanderung vieler Menschen nach Deutschland hat als Kairos (deutsch: Zeitpunkt) Gottes ein Fenster für Missionsarbeit geöffnet. Gott helfe uns, diese Gelegenheit zu effektiver und ganzheitlicher Missionsarbeit zu nutzen. Teilen wir unser Leben und geben wir neuen Familienmitgliedern Gottes die notwendige Nestwärme unter uns.

Willi Ferderer ist Referent für Internationale Gemeindearbeit in Deutschland

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (August – November 2020) erschienen.

1 Die Fula-Djallon, bzw. Peuls-Djallon leben im Nordosten von Guinea-Conakry, im Gebiet „Fouta-Djallon. Sie gehören zum etwa 40 Millionen zählenden Volk der Fula in West-, und Zentralafrika, von Senegal bis Kamerun und von Mali bis Benin und werden von Missions-Experten als eines der größten noch unerreichten Völker der Welt und auch als Schlüssel-volk in Westafrika eingestuft.

2 Die Franzosen bezeichnen sie als die „Peuls“ und sie selbst bezeichnen sich in ihrer Sprache als die „Fulbe“.

3 Umma – der arabische Begriff bezeichnet die trans-nationale, elitäre Gemeinschaft der Muslime. Siehe dazu auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Umma.

4 Lebenskonzept und kulturelle Identität der Fula werden in ihrer Sprache als „Poulaaku“ bezeichnet. Das definiert, was es heißt ein guter Fula-Mensch zu sein.

5 Die meisten Muslime dieser Welt folgen einem sog. „Volksislam“. Er integriert animistische und okkulte Bräuche und variiert von Volk zu Volk. In Guinea-Conakry und Senegal äußert er sich vor allem in der animistischen Ahnenverehrung, Opferfesten, Initiationsriten und vielen okkulten Amuletten.

6 Zum Beispiel ähnlich wie die Hoffnungshäuser: https://hoffnungstraeger.de/was-machen-wir/hoffnungshaeuser/

7 In der Nähe von Conakry, gegründet von Fara Daniel Tolno; … in Sogroya, nahe von Télimélé, wo Pastor Lamin Kanteh arbeitet; in Gambia, wo Pastor Modou Camara ein Lebenszentrum leitet, für früher verfolgte Fula-Christen mit Werkstätten und einem traditionell runden Gemeindehaus. Ich durfte die letzten zwei besuchen.

8 Apg. 11,14; 16,15+31+34; 18,8; 1.Kor. 1,16; Phlm. 2; 2.Tim. 1,16; 4,19.

9 In Theologisches Begriffs Lexikon zum NT, Band I., Theol. Verlag R. Brockhaus, Wuppertal, 4 Aufl. 1977, S. 644