Die Scham der Armut

Die Scham der Armut

Linah und Thomas Mencke treffen im Slum von Asunción auf Familien im Kreislauf der Armut. Wenige Jobs, Kinder, die mit 13 Jahren die Schule abbrechen, um zu arbeiten oder weil sie schwanger sind, schlechte Qualifikationen. Hier wollen sie ihren Teil zur Veränderung beitragen.

Santi* saß vor einem einfachen Haus aus Spanplatten und Wellblechdach an einem kleinen Holztisch. „Ich kann nicht zum Jugendcamp mitkommen, ich bin krank.“, sagte er und schaute auf den Boden. „Das ist kein Problem“, antwortete ich, „mein Hals kratzt auch ein bisschen. Also, los geht´s!“

Noch immer habe ich Schwierigkeiten, die kulturellen Unterschiede klar zu erkennen, doch dann klärte mich Santis Tante auf: „Er ist nicht krank. Er hat nicht genug Kleidung, um für fünf Tage aufs Camp zu fahren.“

Zum Glück ist Carla*, Santis Mama zu Hause und da ich hier bin, um die Jugendlichen jetzt zum Camp zu fahren, konfrontiere ich sie trotz eines inneren Konflikts über die in Paraguay herrschende Schamkultur direkt mit den Fakten. Nachdem ihre Versuche, sich herauszureden, gescheitert sind, rückt sie letztendlich mit der der beschämenden Wahrheit heraus. „Carla“, sage ich spontan, „wir kennen uns schon eine ganze Zeit – du hättest mit mir reden können und wir hätten eine Lösung gefunden. Hör zu: Ich gebe Santi Kleidung von mir, die wird ihm passen und keiner auf dem Camp wird es bemerken.“ Kurz darauf verschwindet ein fröhlicher, gesunder Santi mit seiner Mama im Haus und gemeinsam packen sie alle verfügbaren Klamotten ein.

Kaum einer von uns kann sich vorstellen, was in den folgenden fünf Tagen tatsächlich in den Gedanken und Gefühlen dieses jungen Mannes vor sich ging. Doch eines ist sicher: Santi und seine Mutter erlebten heute Gottes Liebe, ganz praktisch und sehr persönlich.

Seit diesem Tag haben wir nicht wieder über die Situation gesprochen und meine T-Shirts und Shorts habe ich (noch) nicht zurückerhalten. Aber das ist auch vollkommen irrelevant – wichtig ist, dass Santi verstanden hat, dass er wertvoll ist und dass Scham nicht das letzte Wort in seinem Leben haben muss.

*Namen geändert

Linah und Thomas Mencke sind Missionare in Asunción, Paraguay

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai – Juli 2024) erschienen.