Selbst denken an der Uni

Selbst denken an der Uni

Judith Ricken arbeitet mit japanischen Studenten und erlebt, wie sie jenseits der familiären Traditionen beginnen, sich ihre eigenen Gedanken über den christlichen Glauben zu machen.

Es ist Montag, 11 Uhr. Ich treffe mich mit Namie und Maki in einem Restaurant zum Bibellesen. Die beiden sind schon da, als ich ankomme. Maki möchte den christlichen Glauben kennenlernen. Ich bin Mitarbeiterin der Studentenmission KGK (Kirisuto Gakusei Kai) in Japan. Um den Studenten zu helfen, mit ihren Freunden in der Bibel zu lesen, hat unsere Stundentenmission das Büchlein „WITH“ (auf Deutsch: mit) erstellt. Heute ist die dritte Lektion dran: „Der versprochene Retter“. Wir lesen die Geschichte von Zachäus, dem Zöllner aus Lukas 19.

Die Studentenzeit ist sicher überall auf der Welt eine sehr besondere Zeit. Zum ersten Mal aus der Schule, schon fast erwachsen bildet man sich für die Zukunft, um schon bald voll an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Da in Japan die Schulbildung vor allem aus dem Wiederholen und Auswendiglernen für Tests besteht, haben viele Japaner im Studium das erste Mal die Gelegenheit, sich selbst Gedanken zu machen. Viele beginnen, über ihr bisheriges Leben und ihre Zukunft nachzudenken. Die neuen Freiheiten, das Nachdenken und die anstehenden Entscheidungen führen zu Offenheit, neue Dinge kennenzulernen.

Ich dachte am Anfang, dass deshalb Studenten in dieser Zeit auch vom christlichen Glauben erzählen. Die Realität sieht oft leider anders aus. Viele Studenten, die im christlichen Elternhaus aufgewachsen und getauft sind, haben kein Bedürfnis, ihren Freunden von ihrem Christsein zu erzählen oder zu missionieren. Meistens liegt die Ursache in großer Angst. In der japanischen Gesellschaft sind Angepasstheit und nicht aufzufallen sehr hohe Werte. Die Studenten befürchten also aufzufallen, die Harmonie zu zerstören und das, was die anderen dann über sie denken. Dass Namie und Maki ins Gespräch über den Glauben gekommen sind, ist etwas Besonderes.

Maki weiß inzwischen, dass alle Menschen erstmal Sünder sind. „Wenn man ein Sünder ist, heißt das, dass man nicht gerettet werden kann?“, fragt sie. „Nein, der Retter kommt ja, um die Sünder zu retten! Das ist die gute Botschaft!“, sage ich eifrig. Namie weist darauf hin, dass die Menschen oft nur Zachäus als offensichtlichen Sünder sehen, sich aber nicht selbst als solchen betrachten. Wir brauchen alle Jesus.

Anders als Namie wissen einigen Christen nicht, was eigentlich die gute Nachricht ist, und sind daher auch nicht davon überzeugt. Sie sind einfach Christen, weil sie es nicht anders kennen. Mit unserer Arbeit vor Ort müssen wir also viel früher ansetzen. In einem Heft von KGK heißt es: „Nimm die Studentenzeit, um das, was du bisher über den christlichen Glauben gelernt hast, zu prüfen. Ist es wirklich so, wie du denkst? Stimmen deine Ideen und Gedanken mit dem überein, was in der Bibel steht?“ Deshalb lesen wir mit den Studenten in der Bibel.

Unsere Studenten leiten alle Veranstaltungen und treffen die Entscheidungen. Die Mitarbeiter übernehmen dabei eine unterstützende Rolle im Hintergrund. Wir arbeiten mit allen Kirchen und Gemeinden überkonfessionell zusammen und verstehen uns als von Jesus in die Welt gesandt. Wir sind an die Universität gesandt und wollen in Wort und Tat ein Leben lang Zeugen Jesu sein. Wir unterstützen die Studenten dabei, diese Werte auch für sich anzunehmen, ermutigen sie und fordern sie heraus.

Am Ende sagt Maki, es sei toll, dass Gott jeden Einzelnen sieht und vor allem nicht nur das Schlechte anschaut. Gott sieht das Herz der Menschen an, auch das Herz des Zachäus. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit sie das mit sich selbst in Verbindung bringt, aber es ist genial, dass sie mit Namie gemeinsam in der Bibel liest. Am Ende beten wir, dass sie bald Jesus persönlich kennenlernt.

Judith Ricken ist Missionarin in Nagoya, Japan

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai-Juli 2020) erschienen.