Ditmar Pauck wuchs im brasilianischen Urwald als Sohn von Missionaren auf. Sein Vater lebte ihm vor, dass jeder Mensch eine von Gott gegebene Würde besitzt. Doch Nächstenliebe vorzuleben lässt uns allzu oft an unsere Grenzen stoßen.
Meine Eltern haben viele Jahre als Missionare im brasilianischen Dschungel unter Indigenen gewirkt. So erlebte ich seit meiner frühen Kindheit eine breite Diversität von kulturellen und sozialen Lebensverhältnissen und die damit verbundenen zwischenmenschlichen Spannungsfelder. Meinen Vater überkam eine „heilige Unzufriedenheit“, wenn er unfairem oder gar diskriminierendem Verhalten begegnete. Seine einfühlsame, weitherzige Menschenzugewandtheit entsprang seinem tiefen Glauben, dass die Würde eines Menschen nicht auf Herkunft, Qualitäten oder Leistung basiert, sondern von Gott gegeben und daher unantastbar ist. Ihm war es ein Anliegen, dass sein Leben und Handeln dazu beitragen, diese Würde zu bewahren. Sein Vorbild hat mich persönlich zutiefst geprägt.
Andere hatten keine Eltern, die das so vorlebten. Erst neulich hatte ich eine Begegnung mit einem Gemeindeleiter, die mich sehr bewegte. Er kommt aus einem familiären Hintergrund mit stark negativer Einstellung im Blick auf „Farbige“. Wir sprachen darüber, wie wichtig es ist, den Mitmenschen aus den Augen Jesu und als Ebenbild Gottes zu sehen. Dabei erzählte er mir mit Tränen in den Augen, wie Gott ihn erst vor kurzem von seiner diskriminierenden Haltung befreit hatte.
Was verändert ein Herz dazu, Menschen zu lieben und ihren Wert zu erkennen? Unsere Liebe hängt nicht davon ab, wer unser Nächster ist, sondern ob wir wissen, wer wir sind. Gott hat uns zuerst geliebt. In Gottes Augen ist der Mensch sein Ebenbild (1. Mose 1,26f; 5,1; 9,6; Psalm 8). Du bist damit uneingeschränkt, voraussetzungslos und unterschiedslos würdevoll. Unabhängig von Hautfarbe, Rasse, Herkunft, Geschlecht oder Alter. Unabhängig von Leistungen, von körperlichem oder geistigem Zustand. Unabhängig von sozialem Status, Religion oder Weltanschauung. Dennoch erleben wir alltäglich Diskriminierung.
Im Lukasevangelium wird berichtet, wie ein Schriftgelehrter Jesus fragt: „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben habe?“ (Lukas 10,25-37). Jesus macht klar: Es geht um Nächstenliebe. Der Mann fragt daraufhin: „Wer ist denn mein Nächster?“ oder besser: „Wer qualifiziert sich denn für meine Liebe?“ Jesus antwortet mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Mit dem Ansatz, zu fragen, wer würdig ist, ist es unmöglich, das Gebot der Liebe Gottes zu erfüllen. Jesus redet über die liebevolle Anteilnahme für einen Menschen in Not, nicht darüber, ob dieser Bedürftige sich für unsere Liebe qualifiziert.
Auch unser Grundgesetz drückt es in seiner wichtigsten Wertentscheidung knapp und klar aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Artikel 1). Oft denken wir gleich an Fälle wie Sklaverei, Menschenhandel, Kindesmissbrauch oder dergleichen. Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen, um mit diesem Thema konfrontiert zu werden. Wir erleben es in unserem Alltag: Da ist der Kollege, der auf der Arbeit gemobbt wird, weil er eine andere Hautfarbe hat. In der Schule wird ein Kind gehänselt, weil es kleiner, schwächer oder übergewichtig ist. Wenn auf den Fußgänger ein Obdachloser zukommt, wechselt er schnell die Straßenseite. Wie gehen wir mit dieser Spannung zwischen unserem Anspruch an andere und Gottes bedingungsloser Liebe um?
In Brasilien verläuft Diskriminierung weniger entlang der ethnischen Grenzen, sondern eher entlang der sozialen Schichten. Das haben wir besonders in unserer Gemeindegründungsarbeit im Armutsviertel in São Paulo erlebt. Die Kluft zwischen Arm und Reich war Herausforderung für das Miteinander und die Integration von Jugendlichen in der Mutter- sowie in der Tochtergemeinde.
Die Arbeit der CENA (mehr auf Seite 30) überkommt diese Kluft und begegnet Menschen im Zentrum von São Paulo am Rande ihrer Existenz. Manche von ihnen befinden sich in der Prostitution oder Drogenabhängigkeit, andere sind Straßenkinder. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bringen ihnen seit Jahrzehnten die Liebe Gottes in schlichter, aber lebensverändernder Weise nahe.
Wirkliche Nächstenliebe ist eine unvoreingenommene, natürliche, unkonventionelle und unspektakuläre, eine unscheinbare, selbstverständliche und oftmals sogarunbewusste Haltung.
So wie Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und gute Taten der Liebe Menschen zu Jesus führen können, kann auch der Mangel an guten Taten geradezu anti-evangelistische Wirkung haben. Viele distanzieren sich vom Evangelium, wenn sie nicht die Liebe Jesu im Verhalten der Christen wahrnehmen. Dies beobachten wir im brasilianischen Kontext vor allem bei Menschen in der sogenannten „neo-pentecostalen“ Bewegung, die sich erst von dem vielversprechenden Wohlstandsevangelium angesprochen fühlen, sich dann aber oft mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein, zutiefst enttäuscht und verletzt abwenden.
Der Samariter hatte den misshandelten Menschen vorher nie getroffen – er war ein völlig Fremder. Er atte keine Ahnung, wie jener in diesen Zustand geraten war. Er empfand so viel Liebe, dass er, egal, wem er da begegnete, niemals die Frage stellte: „Qualifiziert sich dieser Mensch für meine Liebe?“Die einzige Frage war: „Wie kann ich diesen Menschen so lieben, wie er es benötigt?” So liebt Gott uns. So hat uns Jesus bedingungslos, selbstlos und aufopferungsvoll geliebt.
Gottes Wort offenbart ein tiefgründiges Verhältnis zwischen dem Mitteilen der guten Botschaft und dem Wirken von guten Taten. Gutes zu tun sollte sich nicht auf das beschränken, was die Reichen den Armen tun. Jeder, unabhängig von seinem Sozialstatus, ist in die Verantwortung hineingenommen. Wir sind aufgerufen, mit sozialer Verantwortung in allen Bereichen unseres Lebens zu handeln: im privaten, Gemeinde- und öffentlichen Leben.
Das strebt das LEVANTE-Projekt in Recife in besonderer Weise durch die enge Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeinden an. Dadurch werden Gemeinden herausgefordert, selbst sozial-missionarische Initiativen in ihrem unmittelbaren Umfeld anzubieten.
„Coca“, Pastor der Freien evangelischen Gemeinde in Escada im Nordosten Brasiliens, leitet das LEVANTE-Projekt vor Ort (mehr dazu in der letzten Ausgabe der move). Er lebt mitten im sozialen Brennpunkt, setzt sich für die Menschen dort ein und hat bewusst die Entscheidung getroffen, diese Arbeit weiterzuführen, ungeachtet der Gefahren für ihn und seine Familie. Sein starkes Lebenszeugnis hat ihn zu einer Referenz und zum Friedensstifter für das Drogenkartell und die politische Führung im Stadtviertel gemacht.
Ähnliches Zeugnis sind die Mitarbeiter des Bildungszentrums Marinaha (mehr dazu in der letzten Ausgabe der move) für die jungen indigenen Kulina im brasilianischen Amazonasgebiet. Sie sind ein buntes, zehnköpfiges, multikulturelles Team von Missionarinnen und Missionaren, die einmütig zusammenleben und effektiv miteinander arbeiten – für ein gemeinsames Ziel.
Die Arbeit an solchen Orten ist nicht immer einfach. Die Nächstenliebe, die durch unsere Liebe zu Jesus entfacht wird, befähigt uns, mit Vollmacht inmitten unserer sozialen Herausforderungen und unserer persönlichen ethischen Konflikte zu handeln. Wirkliche Nächstenliebe ist eine unvoreingenommene, natürliche, unkonventionelle und unspektakuläre, eine unscheinbare, selbstverständliche und oftmals sogar unbewusste Haltung.
Gott hat eine Vorliebe dafür, seine göttlichen Eigenschaften und seinen Charakter – wie Liebe, Barmherzigkeit, Güte, Großzügigkeit, Annahme, Vergebung und Versöhnung – in und durch uns Menschen zu offenbaren. Es gibt kaum eine überzeugendere Weise, Gott Menschen nahezubringen, als dass sie in unserer Schwachheit, Begrenztheit und unserem Unvermögen Jesu Vollmacht hautnah erfahren und begegnen.
Wie oft mögen sich wohl unsere Mitmenschen danach sehnen, Gottes Liebe, von der wir so oft sprechen, in uns als Gemeinde Jesu zu begegnen, und erfahren sie doch nicht? Jesus möchte uns persönlich, aber auch als Gemeinde gebrauchen. Nicht nur, um den Menschen aus der Sünde zu befreien (Evangelisation), sondern auch, um ihn und seine Umwelt aus den Auswirkungen der Sünde zu befreien (soziales Engagement). Dies geschieht nur, wenn wir den ganzen Menschen als Ebenbild Gottes und aus den Augen Jesu sehen.
So wie mein Freund, der Gemeindeleiter, befreit wurde von seiner diskriminierenden Haltung, brauchen auch wir die Offenheit, uns von Gottes Liebe anstecken zu lassen. Er wurde nun herausgefordert, als Mentor an einer Schule mit sozialschwachen Kindern multikultureller Herkunft als Volontär mitzuarbeiten. Die tiefen Beziehungen, die durch den hautnahen Kontakt mit diesen Kindern gewachsen sind, haben ihn stark beeindruckt und seine Mentalität und Herzenseinstellung radikal verändert. Nun versucht er begeistert, andere zu ermutigen, sich auf diese Mentorerfahrung einzulassen, denn er hat die verändernde Kraft zwischenmenschlicher Nähe und persönlicher Begegnung aus Jesu Blickwinkel erfahren.
Ditmar Pauck ist Missionar in Brasilien
Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai – Juli 2020) erschienen.