Ein Tsunami verwüstet eine japanische Kleinstadt. 10 Jahre später schaut Missionarin Judith Ricken zurück, was mit lokalen Partnern und Gottes Hilfe
entstanden ist.
Mai 2019: Ich treffe in der japanischen Kleinstadt Onagawa mit ein paar Frauen zusammen. In einem Trailer sitzen wir am Tisch – umgeben von wunderschönen Stoffen. Und ich halte in meinem noch gebrochenen Japanisch eine Andacht zu Psalm 113. Die Frauen lauschen interessiert und tauschen sich anschließend aus, was sie in der letzten Woche erlebt haben. Die Mutigen versuchen es auf Englisch. Anschließend bekomme ich eine Führung durch das „Megumi“-Projekt.
2011 wurde Onagawa durch das Tōhoku-Erdbeben und den davon ausgelösten Tsunami zu 75 Prozent zerstört: Knapp 3000 Häuser wurden unbewohnbar und 850 Todesopfer – neun Prozent der Bevölkerung – waren zu beklagen. Menschen wurden obdachlos, verloren ihre Arbeit, Familien brachen auseinander. Missionarinnen und Missionare der Allianz-Mission wollten – zusammen mit amerikanischen Kollegen – diesen Menschen helfen, Onagawa wieder aufzubauen, und ihnen die Liebe Gottes zeigen. Sie träumten von einer christlichen Präsenz in Onagawa. Über Monate durchwanderten sie immer wieder die Stadt und beteten. Beteten, dass Gott ihnen zeigen würde, wen sie ansprechen, mit wem sie Kontakt aufnehmen sollten. Denn wenn hier eine Gemeinde entstehen würde, sollte diese kein Fremdkörper sein, sondern zum Stadtbild dazugehören wie der Bahnhof und das Krankenhaus.
Gott schenkte Begegnungen. Wie durch ein Wunder kamen die Missionarinnen und Missionare mit einflussreichen Leuten der Stadt in Kontakt und wurden als Geschäftspartner wahrgenommen. Ihr Ziel: ein Unternehmen aufbauen, das armen Frauen Arbeit gibt und gleichzeitig aus Zerbrochenem etwas Schönes macht. Japan ist weltberühmt für seine Kimonos – die schönsten Gewänder, die es gibt. Doch im Alltag des 21. Jahrhunderts trägt kaum noch eine Japanerin Kimono. Bevor diese schönen Gewänder nun in Schubladen verstauben, kam die Idee auf: „aus alt mach neu“. Das passte auch zum neuen Stadtmotto:
女川は流されたのではない。新し い女川に生まれ変わるんだ。
„Onagawa ist nicht untergegangen, ein neues Onagawa wird geboren.“
So stellt das „Megumi“-Projekt aus alten Kimonos Alltagsgegenstände her: Schals und Haarbänder, Krawatten und Bibelhüllen, Taschen und Kissenbezüge. Das Sortiment ist riesig und jedes Stück ein Unikat und liebevoll gefertigt. Die Frauen erleben Gemeinschaft, öffnen sich einander und berichten, wie es ihnen geht. Eine Missionarin hält zweimal wöchentlich eine Andacht und die Frauen lernen die Bibel kennen. Daneben wird im „Megumi“-Shop auch Englischunterricht angeboten und eine Kleingruppe trifft sich zur geistlichen Gemeinschaft. Aus dieser Gruppe soll ein Gottesdienst entstehen.
Die Missionarin Lorna Gilbert kehrte 2019 aufgrund familiärer Verpflichtungen nach Amerika zurück. Ihre Hoffnung: dass die nun in einheimische Hände übergebene Arbeit auch weitergehen kann. Noch war keine der Frauen zum Glauben gekommen, aber N., die den Englischunterricht leitet, war sehr offen. Würde sie die Arbeit übernehmen können? Und würde es neben dem Geschäft weiter geistlichen Input geben und die christliche Gemeinschaft wachsen? Als Allianz-Mission in Japan entschlossen wir uns, sowohl N., als auch eine andere Missionarin weiter finanziell zu unterstützen.
Zehn Jahre, nachdem Tōhoku die Stadt verwüstete, lese ich voll Freude, dass N. tatsächlich zum Glauben gekommen ist und getauft wurde. Zunächst hatte sie mit dem Gefühl gerungen, mit den Missionaren sei auch Gottes Gegenwart verschwunden. Sie verstand, dass sie selbst eine Beziehung zu Gott brauchte, um Gottes Gegenwart weiter zu erleben. N. wurde Christ und ließ sich taufen.
Langsam aber sicher wächst und stabilisiert sich die christliche Präsenz in Onagawa. Durch die lange partnerschaftliche Arbeit mit lokalen Unternehmen und Business-Gruppen sowie praktische Hilfe wird das Christentum von den Menschen in Onagawa als etwas Positives wahrgenommen. Der Boden ist bereitet, bitte beten Sie mit, dass die Saat bald aufgeht.
Judith Ricken ist Missionarin in Nagoya, Japan
Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai-Juli 2021) erschienen.