Welt aus den Fugen

Welt aus den Fugen

Wie können verletzliche und verletzte Menschen in einer verrückten Welt zu Weltbewegern werden? Missionarin Wiebke Schmidt-Holzhüter über chaotische Jüngerschaft, persönliches Leid und Heldin sein in Manila.

Seit einigen Wochen hängt an der Wand unseres Büros hier in Manila eine Weltkarte. Die besteht aus Folienteilen, die man direkt und schadlos an die Wand kleben kann. Allerdings hat der skandinavische Hersteller nicht mit der philippinischen Luftfeuchtigkeit gerechnet – und so verrutschen regelmäßig einzelne Kontinente. Und jedes Mal, wenn ich die Welt wieder „zurechtrücke“, denke ich: „Wenn es doch mal so einfach wäre, Weltbeweger zu sein“.

Was ist das überhaupt für ein Titel: „Weltbeweger“? Das hört sich nach den Großen und Mächtigen dieser Welt und irgendwie nach Weltfrieden an. Was hat das mit mir, mit uns zu tun? Mit meinem Leben schien es lange nichts zu tun zu haben, schließlich hat es die gesamte erste Hälfte meines inzwischen 52-jährigen Lebens gebraucht, um überhaupt Lebensmut und -perspektive zu entwickeln. Aber genau die habe ich bekommen, als Gott – auch durch das Engagement anderer Menschen – meine Welt bewegt und mein Leben mit seiner Liebe umgekrempelt hat. Und das hat alles verändert.

Weltbeweger zu sein bedeutet, Menschen in Kontakt mit Gott und seiner Liebe zu bringen

Weltbeweger zu sein – das ist mir seitdem klar – bedeutet, Menschen in Kontakt mit Gott und seiner Liebe zu bringen. Wenn sie von dieser Begegnung erfasst werden, kommt ihre Welt in Bewegung, wird positiv verändert. So weit das Konzept.

Im echten Leben – so erlebe ich es, seit ich 2003 als Missionarin auf die Philippinen kam – bedeutet Weltbeweger zu sein, weder vor mir selbst oder anderen einen Heldenepos zu kreieren, noch mich vor den oft schmerzhaften Realitäten des eigenen Lebens und dieser Welt wegzuducken.

Wie oft diskutiere ich mit Gott darüber, ob er – der doch die Liebe ist – diese Liebe nicht klarer im Leben derer zum Ausdruck bringen könnte, die unschuldig leiden. Wie im Leben der vierjährigen Mia und des dreijährigen Macoy, die gemeinsam mit ihrer Familie in Manila auf der Straße leben und einer erbärmlichen Zukunft entgegengehen.

Wie oft leide ich an der empfundenen Hilflosigkeit, wenn Kinder, Jugendliche, Väter und Mütter im Sumpf von Armut, Drogen, Alkohol und Gewalt stecken bleiben, obwohl wir sie jahrelang begleiten. Wie können wir etwa dem 15-jährigen Ernesto noch helfen, der trotz aller Zuwendung nun doch im Gefängnis gelandet ist?

Immer wieder muss ich mich mit der Spannung zwischen dem realen Leid und der versprochenen Fürsorge Gottes auseinandersetzen. Wenn ein Taifun drei Millionen Menschen – darunter auch mich selbst – ohne Hab und Gut zurücklässt. Oder wenn mich eine kleine Mücke mit einer Tropenkrankheit beglückt, die mir nun seit neun Jahren Gelenk- und Muskelschmerzen bereitet.

„Messy discipleship“

Weltbeweger zu sein bedeutet auch, sich verletzlich zu machen. In den letzten Jahren begleitet mich ein Begriff: „messy discipleship“. Dieser beschreibt eine Jüngerschaft (discipleship), die bereit ist, sich die Finger / das Leben dreckig (messy) zu machen. Die Bereitschaft, mitten in der Zerbrochenheit dieser Welt zu leben, so wie es Jesus auch getan hat, und ihm dort nachzufolgen. Wenn ich Gott erlaube, mehr als nur schmückendes Beiwerk zu meinem möglichst angenehmen Leben zu sein, erfahre ich ihn in einer ganz anderen, ja, in existentieller Tiefe. Tatsächlich als Tröster, Friedefürst, Heiland und liebenden Vater. Als den, der meine Fragen aushält und der noch mehr an dem Schmerz dieser Welt leidet als ich selbst. Auf dieser Grundlage kann ich hier in Manila denen begegnen, die verletzt und verletzlich sind. Wie der 18-jährigen Ara, die inzwischen trotz der erbärmlichen Armut ihrer Familie in Jesus Mut gefunden hat, das Leben anzugehen. Wie Toni, der durch Jesus vom Alkohol losgekommen ist und jetzt seine Familie mit seiner Fürsorglichkeit überrascht. Wie Jennylyn, die inzwischen mit ihrer lebensbedrohlichen Herzkrankheit fröhlich und voller Hoffnung auf die Ewigkeit in der Gegenwart Gottes zugeht.

Die Weltkarte an unserer Bürowand gerät immer wieder aus den Fugen und lässt sich mit ein paar Handgriffen wieder zurecht bewegen. Unsere aus den Fugen geratene Welt braucht aber echte Weltbeweger. Keine Helden, sondern Menschen wie dich und mich, die bereit sind, in aller Verletzlichkeit Jesus nachzufolgen, um dann anderen von ihm und der Hoffnung zu erzählen, die er bringt. Er allein ist in der Lage, die Welt und das Leben jedes Einzelnen tatsächlich wieder in Ordnung zu bringen.

Wiebke Schmidt-Holzhüter ist Missionarin in Manila, Philippinen

Dieser Artikel ist in unserem Magazin move (Mai – Juli 2022) erschienen.